„Stadtbild“-Debatte: Eine Nacht im „Angstraum“ Offenbach
Die Schauspielerin Uschi Glas sagt, sie traue sich nicht mehr, abends durch den Englischen Garten in München zu laufen. Die CDU-Politikerin Gitta Connemann sagt, sie gehe ab einer bestimmten Zeit in Berlin „nicht mehr über eine öffentliche Straße“. CDU-Gesundheitsministerin Nina Warken sagt, es gebe „No-go-Areas“ für Frauen, also rechtsfreie Räume, an denen Frauen nicht mehr sicher sind. Und in der Tagesschau sagt eine x-beliebige-Passantin: „Ich habe irgendwie Angst. Was man so hört . . .“
Ursache dieser Angst ist für viele ein Problem im „Stadtbild“, wie es Bundeskanzler Friedrich Merz vor mittlerweile über zwei Wochen benannt hat. Später präzisierte er das dann mit den Worten: „Probleme machen uns diejenigen . . ., die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, die nicht arbeiten und die sich auch nicht an unsere Regeln halten. Viele von diesen bestimmen auch das öffentliche Bild in unseren Städten. Deshalb haben mittlerweile so viele Menschen in Deutschland . . . einfach Angst, sich im öffentlichen Raum zu bewegen.“
Wir wollen diese Männer finden, die das Stadtbild bestimmen, die auf den Straßen, Plätzen und in den Parks rumlungern. Und sie zur Rede stellen. Nicht im Englischen Garten, nicht auf dem Kurfürstendamm, sondern in Offenbach am Main. Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund: zwei Drittel. Die AfD-Politikerin Irmhild Boßdorf hat Offenbach diese Woche genau deshalb im Europaparlament als besonders gefährlichen Ort für Frauen herausgehoben.
Es ist Montagabend und beginnt schon zu dunkeln. Es ist eisigkalt, es stürmt, es schauert. Schon das reicht, um sich unwohl zu fühlen. Die Innenstadt um den Marktplatz besticht durch asphaltierte, schummrige Plätze. Es gibt viele Sitzgelegenheiten, aber niemand sitzt. Fremdländisch aussehende Passanten flitzen allein oder zu zweit durch die Straßen. Niemand steht einfach nur so im Regen rum. Das Problem im Stadtbild, so viel wird direkt klar, scheint ein Schönwetterproblem.
Endlich, unter einem Dach versteckt, im Schatten eines großen, grauen Gebäudes, drei dunkelhäutige, schwarzbärtige Männer, alle so um die 20 Jahre alt. Sie schrauben an einem Fahrrad rum. Kommen aus Indien, sagen sie, wollen hier Geld verdienen. Jeder hat zwei Jobs. Nachts tragen sie die F.A.Z. aus (kein Witz), tagsüber liefern sie Essen. Sechs Tage die Woche, insgesamt 60 bis 70 Stunden. Sie wohnen zu dritt, zu viert in einem Zimmer. Über deutsche Frauen machen sie sich gar keine Gedanken. Keine Zeit, sagen sie. Sie wollen viel arbeiten, viel verdienen und in ein paar Jahren zurück in die Heimat, um sich dort etwas aufzubauen.
Offenbachs spezielle Sicherheitsstruktur
Diese Männer hatte Merz nicht gemeint, hatte sie sogar ausdrücklich als „unverzichtbaren Bestandteil unseres Arbeitsmarktes“ bezeichnet. Wo sind also die anderen Männer, diejenigen, die „das öffentliche Bild in unseren Städten“ bestimmen? Am Ende der Straße wird mit einem Mal ein dunkler Park sichtbar. Und tatsächlich, dort, unter einem hölzernen Pavillon, mit einem Joint in der Hand, finden wir einen rumhängenden Ausländer: Dragan.
Gegelte Haare, schwarze, glänzende Jacke, weite Hosen, weiße Turnschuhe, rumänisch-serbisch, um die 20 Jahre. Die Brusttasche, die er sonst dabei hat, hat er heute vergessen. Dragan hat Fachabitur und ist gelernter Elektriker. Passt also auch nicht ins Bild vom Problemstadtbild. Aber er erzählt uns eine Menge über die Sicherheitsarchitektur in Offenbach.
Es läuft hier nämlich so: In Offenbach kennt jeder eigentlich jeden, und jeder guckt darauf, was der andere macht. Gleichzeitig gibt es eine starke Altershierarchie unter den zugewanderten Männern. Da sind einmal die Jungs, so zwischen 14 und 16. Dann die in der Mitte, so 17 bis 20, und schließlich die Älteren. Die Jüngeren haben „Respekt“ vor den Älteren, und die Älteren passen jeweils auf, dass die Jüngeren keinen „Scheiß“ machen.
Was nicht dazu führt, dass die Jüngeren keinen „Scheiß“ machen, sondern dazu, dass sie ihn versteckt machen. Also zum Beispiel was rauchen. Wenn die Älteren das dann doch spitz bekommen, dann „würde auf jeden Fall auch die ein oder andere Ohrfeige fliegen“, sagt Dragan. Er mache das auch so. Glaubt er, dass so eine Ohrfeige die Jüngeren vom Rauchen abhält? „Nein, eigentlich nicht. Aber man muss das machen. Man kennt eben entweder seinen Bruder oder seinen Cousin. Und deshalb muss man es machen. Sonst kriegen die das raus.“
Ist das nicht Selbstjustiz? Warum nicht die Polizei informieren, wenn die Größeren „Scheiß“ machen? „Die Bullen hier sind doch auch nicht gut. Ich habe einen Bekannten, dem haben sie auf den Hoden getreten, der kriegt nie wieder einen hoch. Einen anderen haben sie übelst zusammengeschlagen.“

Dragan sagt: „Wir haben hier, sag ich mal, unsere Gesetze, die gelten. Ich würde jetzt nicht sagen, wir entscheiden, was in Offenbach abgeht, aber wir haben unsere Verhaltensregeln.“ Respekt wird bei diesen Verhaltensregeln sehr großgeschrieben, genau wie Anstand und Härte. Dragan kennt Gewalt und „Messer, Jetpistolen, Schlagstöcke, Schlagringe, Taser“. Er hat alles schon gesehen. Aber die Gewalt, sagt er, passiere zwischen „Jungs, die sich hassen“, nicht mit Unbeteiligten, die einfach auf der Straße laufen.
Und die Frauen, sind die hier sicher? Dragan lacht: „Die Frauen in Offenbach haben was zu sagen. Die halten nicht still. Wenn du die ärgerst, dann jagen die dich!“ Dragans Freundin steht daneben, sie nickt. Sie ist oft allein unterwegs, hatte noch nie Angst. Dragan sagt: „Aber bevor sie bei mir angekommen ist, rufen schon zwei bis drei Jungs an und sagen, ich habe deine Freundin gerade da und da gesehen.“
Eine Blockwart-Kultur, so könnte man das nennen, was Dragan beschreibt. Unfrei, gewalttätig, wertebasiert, hierarchisch, und doch auch irgendwie eine Art, aufeinander aufzupassen, wenn man, wie viele hier, kein Vertrauen in staatliche Autoritäten hat. Offenbach, sagt Dragan, prägt dich. Es prägt dich so sehr, dass du einen, der in Offenbach großgeworden ist, schon an seinem Gang und seiner Haltung erkennst.
„Schämt euch mal ein bisschen“
Wir lernen diese Offenbacher Kultur kurze Zeit später selbst kennen. Als wir nämlich auf drei junge Bulgaren stoßen, die albern und lärmend durch die Straße ziehen. 14 und 15 sind sie, schwarze Jacken und Kapuzenpullis, Löcher in den Hosen, und unterhalten kann man sich mit ihnen fast nicht, weil die Pubertät ihnen schlicht den Stecker gezogen hat. Sie reden in für Außenstehende unverständlichen Codes, von „069“, den „Babos“, dem Rapper Haftbefehl und seinen „Azzlacks“, von Messern und Gewalt, von Gangs und Drogen – aber eigentlich haben sie keine Ahnung, das merkt man, sie tun eben so, als seien sie die größten Checker.
„Wer uns nix macht, dem machen wir auch nix“ und „Wer Angst hat, der ist schon am Boden“, tönen sie. Als einer mich irgendwann nach einer Zigarette fragt, gebe ich ihm eine. Und wirklich, sofort dröhnt es laut aus einer Ecke: „Ey!!!“ Ein Mann, den wir zuvor nicht gesehen haben, von dem wir nicht wissen, woher er so plötzlich kam, ein Älterer, vielleicht dreißig Jahre, muskulös, grimmig. „Das sind immer noch Kinder, was für Zigaretten geben Sie da!“ „Er ist unser Bruder“, sagt einer der Jungs leise. „Gib die Zigarette zurück!“ Der Junge senkt den Kopf, schämt sich. Zu uns sagt der Mann: „Schämt euch mal ein bisschen. Das war nicht gut von euch.“ Dann sagt er „Yallah!“ und nimmt die Jungs mit sich.
Er ist richtig angepisst. Aber er hat recht, es war nicht gut von uns. Es war gut von ihm, er hat auf die Kinder aufgepasst. Hatten wir Angst? Nein. Hätte er uns eine verpasst, wenn wir Männer gewesen wären? Vielleicht. Hätte ich den Jungs Zigaretten gegeben, wenn ich aus Offenbach stammen würde? Mit Sicherheit nicht.

Wir sind den ganzen Abend unterwegs, laufen durch die Straßen, suchen bedrohlich wirkende migrantische Jungs und Männer. Wir finden eine Art Halbwelt, eine Welt, über die noch viel zu wenig in den Zeitungen steht, ein Milieu mit anderen Regeln, als man sie aus der Reihenhauskultur kennt. Ärmer, autoritärer, gewalttätiger, männlicher und doch auch auf eigene Art freundlicher, zugewandter, irgendwie sozialer.
Jeder, den wir an diesen Abend ansprechen, spricht Deutsch, redet mit uns, und nicht selten spontan eine halbe Stunde. Das passiert in anderen Recherchen nie. Wir finden keine Scheu oder Scham, eher sogar Neugierde. Denn zu selten mischen sich beide Welten.
Da ist zum Beispiel Schwarzkopf. Er steht umringt von einer Gruppe von fünf oder sechs jungen Männern, fast alle mit Migrationshintergrund, schwarze Jacken, schwarze Kappen, und Schwarzkopf ist ganz klar der Mittelpunkt, um seine Gunst wird gebuhlt, das sieht man von Weitem. Schwarzkopf in glitzerndem schwarzen Jackett und schwarzer Stoffhose.
Elegant ja, aber auf eine gewisse Weise eben auch Gangster-Chic. Ein dünnes Oberlippenbärtchen, ein schwarzes Kappi, eng anliegend, wie ein Piratentuch. Gleichzeitig große Augen und ein breites Lächeln, er blickt und redet sanft. Jede Frau behandele er in „respektlichem Sinne“, sagt er, „wie seine Schwester“, und je länger er spricht, desto mehr hört er sich nicht an wie ein 16 Jahre alter Bulgare aus Griechenland, sondern wie einer der Älteren.
Das Leben war hart zu ihm, das erzählt er jedenfalls. Er hat schon auf der Straße gelebt, war in der Psychiatrie, wurde jahrelang in der Schule gemobbt und mit einem Messer ins Bein gestochen. Und dann wurde er entdeckt, beim Rappen im Park, nun will er Karriere machen, mit Hip-Hop, Gangster-Rap, aber auch mit Liebesliedern. Das „Journal Frankfurt“ hat schon über ihn geschrieben, grinst er.
Wenn es hart auf hart kommt, dann auch Selbstjustiz
In Offenbach, sagt er, gebe es viele „Stresssituationen“. Wenn man einen falsch anschaut, gebe es gleich eine „Backpfeife“. Wichtig sei, mit wem man abhänge, mit welchen Leuten, damit man sich nicht in schlechte Sachen reinziehen lasse. Und doch, wenn es hart auf hart komme, wäre er auch für Selbstjustiz. „Weil ich weiß, dass es dann in diesem Moment gerecht ist.“ Er selbst habe seinen „Respekt auch nicht dadurch gelernt, dass mein Vater mir sagt, ey, hör auf damit, sonst hätte ich das alles nicht gelernt. Ich habe diesen Respekt so gelernt, dass ich auf der Straße geschlagen wurde, dass mit mir zu Hause mit Gewalt geredet wurde, sodass ich verstanden habe, okay, es ist ernst.“
Er lüftet seine Jackett und zeigt eine Art Pistole, die in der Hose steckt. Eine Jet, das ist eine legale Waffe, die aber nur für Tiere verwendet werden darf. Unter den jungen Offenbachern hat sie fast jeder zweite, so hatte es uns Dragan erzählt. Sie feuert Pfefferspray ab, aber mit einem ordentlichen Wumms, das ist gefährlich. Schwarzkopf sagt, er trägt sie zur Verteidigung, er hat Angst vor Hunden, seit sein Bruder einmal von einem gebissen wurde. Benutzen musste er die Jet bisher noch nie.
„Mach dich ab, sonst gibt’s Schläge“
Um Schwarzkopf muss man sich keine Sorgen machen, der wird klarkommen. Um die drei jungen Bulgaren allerdings schon. Wir treffen sie zufällig noch einmal an diesem Abend, in einem Parkhaus des Einkaufszentrums „Komm“. In den oberen Etagen wird gedealt, das hatten wir von einigen gehört, und wir wollen uns das anschauen. Im Sommer sind es hundert Leute, die hier rumhängen, meint einer, aber heute sind es nur ein paar Jungs.
Und während blonde, deutsche Pärchen um die 50 ihre Kombis nach einer Einkaufstour abholen und durch das dunkle Parkhaus nach unten kurven, geben uns die Jungs eine Tour durch ihr Parkhaus. Es ist ein anderes Parkhaus, eines, in dem Autos keine Rolle spielen, sondern Graffiti, Codes an den Wänden wie 428 oder 071, und überall auch 069, Heimatstolz.
Sie zeigen uns die oberen Etagen, wo kein Auto mehr parkt, führen uns zu den Preislisten der Drogen, die dort an die Wände geschrieben sind: Es gibt „Hase“, „La mouse“, „Dry“, „Frozen“ und „Jayjou“ also Cannabis und Kokain. Aber selbst hier steht eine Warnung an der Wand: „Wenn du unter (Alter überschmiert und nicht mehr lesbar, Anm. Red.) bist, mach dich ab, sonst gibts Schläge, du Pico!!!“ Die drei Jungs laufen durch die Gänge, zeigen hierhin und dorthin, „Die Hölle der Azzlacks“ ist da gesprayed, oder „Bulgaratata“ und der eine liest es laut vor, es klingt wie ein Maschinengewehr. Ratata!
Wir sehen, dass sie stolz sind, dass sie ein Teil dieser Halbwelt werden und die Regeln lernen wollen. Sie zeigen Videos auf ihren Handys von jemandem, der eine echte Knarre vom Parkhausdeck abgefeuert haben soll, und von Parties mit Alkohol und Drogen. Einer sagt, er raucht schon seit er acht Jahre alt ist. Was sind eure Träume, was wollt ihr später einmal mit eurem Leben machen?
„Fußballer oder MMA-Kämpfer. Ich will einfach in Geld schwimmen!“
„Ich will einfach ein gutes Leben, wallah, ich will einfach ein perfektes Leben mit meiner Familie!“
„Ich will ein Baba-Leben haben. Bruder, ich will ein Vermögen haben!“
Wir sprechen an diesem Abend viele Stunden mit Jungen und Männern. Es sind keine Illegalen, die in Offenbach das Stadtbild prägen, es sind oft junge Europäer. Keiner dieser Jungen und Männer bezieht die Angst der deutschen Bevölkerung auf sich selbst. Keiner glaubt, dass man als Frau Angst vor ihm haben muss oder auch nur: haben könnte. Es gibt in Offenbach zwar Jungs, die rumhängen und großspurig von Messern reden, und es gibt Parkhäuser, in denen Rauschgift verkauft wird, und Offenbach hat 67 Prozent Migranten. Aber Offenbach ist laut Polizeilicher Kriminalstatistik zugleich die sichereste Großstadt Hessens, sogar die viertsicherste in Deutschland. Und wir, die Fotografin und ich, brauchten dort keine Angst zu haben.
Source: faz.net