Sport | Türkische Fußballfans: Die Tribüne geht auf die Barrikaden
Fankurven sind oft Orte, an denen Pathos und rührende Momente intensiv ausgelebt werden. Sie können aber auch Räume des Protests sein. Beides zeigte sich am Sonntagabend beim Heimspiel des Istanbuler Fußballvereins Beşiktaş gegen Antalyaspor aus dem Süden der Türkei. Auf die Sekunde genau in Minute 4:17 regnete es plötzlich Stofftiere von allen Tribünen. 4:17 war die Uhrzeit, als am sechsten Februar in der Türkei die Erde mit verheerenden Auswirkungen zu beben begann. Mit der Stofftier-Aktion solidarisierten sich die Beşiktaş-Anhänger mit den vom Beben betroffenen Kindern. So viel zum emotionalen Teil.
Die Begegnung im gleichnamigen Stadtteil Istanbuls hatte jedoch auch eine politische Dimension. Im Laufe des Spiels schwappte der Ruf „Hükümet istifa!“ von Tribüne zu Tribüne, zu Deutsch: Rücktritt der Regierung. Anlass der Unmutsäußerung ist natürlich die unzureichende staatliche Kontrolle von Bauvorhaben sowie das mangelhafte Krisenmanagement nach dem Erdbeben. Bereits beim Spiel von Fenerbahçe gegen Konyaspor am Tag zuvor hatte es ähnliche Äußerungen in den Kurven gegeben.
Während Fußballstadien immer auch Orte (gesellschafts-)politischer Auseinandersetzungen sind, hat die politische Rolle des Fußballs in der Türkei unterschiedliche Facetten.
Zum einen gibt es Vereine wie Istanbul Başakşehir, der als Haus- und Hofverein von Präsident Erdoğan gilt. Dass der Sport ein Spielball unterschiedlicher politischer Interessen ist, lässt sich jedoch auch abseits des Spielfelds beobachten. So ist der Kauf von Eintrittskarten seit der Saison 2013/2014 wegen angeblicher Sicherheitsbedenken nur noch über eine personalisierte Plastikkarte möglich, der so genannten Passolig. Darin sind personalisierte Daten des Karteninhabers gespeichert, sodass sich genau nachverfolgen lässt, wer Eintrittskarten für welche Fußballspiele erwirbt. Das elektronische Eintrittssystem wird von der Aktif Bank betrieben. Diese wiederum gehört zur Çalık-Gruppe, deren CEO im Jahre 2013, so schließt sich der Kreis, Berat Albayrak war – Schwiegersohn Erdoğans und späterer Finanzminister.
Es ist kein Zufall, dass die Passolig unmittelbar nach den Gezi-Protesten eingeführt wurde. Damals solidarisierten sich Fans und Ultras der normalerweise verfeindeten Istanbuler Vereine mit den Protestierenden und stellten sich gemeinsam mit ihnen den türkischen Sicherheitskräften entgegen.
Insbesondere die in der Gruppe „Çarşı“ organisierten Fans von Beşiktaş haben in der Vergangenheit immer wieder gesellschaftspolitische Themen in das Stadion hineingetragen. Im Zuge der Proteste gegen die Erdoğan-Regierung sahen sich die Fans nicht nur mit Instrumenten staatlicher Kontrolle wie der Passolig konfrontiert. Zahlreiche Mitglieder von Çarşı erfuhren durch Gerichtsprozesse auch auf andere Weise die volle Härte des türkischen Staates.
Es wäre derzeit sicherlich überzogen, die jüngsten Unmutsäußerungen in türkischen Stadien mit den Ereignissen vor zehn Jahren gleichzusetzen oder darin eine beginnende Protestbewegung zu erkennen. Nichtsdestotrotz birgt der hohe Organisationsgrad von Fangruppierungen und ihre Fähigkeit, Massen zu mobilisieren, ein Potenzial, welches die türkische Führung durchaus nervös machen dürfte.
„Hükümet istifa!“-Rufe
Der Fußball ist die populärste Sportart der Türkei und das Stadion ein Raum, in dem sich alle Gesellschaftsschichten treffen. Die mediale Reichweite solcher Aktionen ist daher naturgemäß enorm. Es ist also alles andere als ausgeschlossen, dass in einem solchen Umfeld die Dinge eine Eigendynamik entwickeln. Auch die „Hükümet istifa!“-Rufe breiteten sich zunächst langsam von Tribüne zu Tribüne aus, bevor sie das ganze Stadion erfassten. Dass sich der Staatsapparat dieser Gefahr bewusst ist, zeigt auch ein Video des türkischen Fernsehsenders Haber. Darin soll zu sehen sein, wie die Polizei noch während des Spiels Fans in Gewahrsam nimmt, die sich an den Protestgesängen beteiligt haben sollen.
In einer eiligen Stellungnahme der Kulüpler Birliği, dem Zusammenschluss der türkischen Profivereine, bemüht man die bekannten Denkmuster des vermeintlich unpolitischen Sports. Sportvereine seien weder „politische Institutionen“ noch „Teil politischer Debatten“. Vielmehr ginge es nun darum, „die enorme Kraft des Fußballs zu nutzen, um unsere Einheit als Nation zu stärken“. Zwar ist diese Organisation nur die Summe der darin vertretenen Proficlubs. Der öffentliche Umgang der Vereine mit dieser Stellungnahme lässt jedoch Zweifel aufkommen, ob die Vereine tatsächlich hinter der beschworenen nationalen Einheit stehen. Während Vereine wie Beşiktaş die Stellungnahme bloß im Wortlaut teilten, ergänzte sie Kayserispor aus dem zentralanatolischen Kayseri noch um eigene Ausführungen. Darin verurteilt der Verein explizit jeden Versuch einer „böswilligen Spaltung“ der Nation.
Eine Einflussnahme der türkischen Regierung auf die Kulüpler Birliği ist nicht unwahrscheinlich. Erst im vergangenen November forderte Erdoğan bei einem Treffen mit Vertretern der Proficlubs „maximale Anstrengungen“, um die Gewalt in den Stadien und „das Eindringen von Politik“ zu verhindern. Gemeint ist natürlich regierungskritische Politik.
Wenige Tage nach dem Eklat nahm die Situation noch einmal Fahrt auf. „Mit Erstaunen“ teilten die Verantwortlichen von Fenerbahçe am Dienstagvormittag mit, dass Kayserispor, Gegner Fenerbahçes am kommenden Wochenende, gemeinsam mit den Sicherheitskräften den Ausschluss aller Gästefans beschlossen habe. Die Entscheidung könne man „keinesfalls akzeptieren“, da ausschließlich das Ziel verfolgt werde, die Fans von Fenerbahçe und den Verein selbst zu bestrafen. Der Verein hat hiergegen erfolglos Klage vor dem lokalen Verwaltungsgericht in Kayseri erhoben. Ali Koç, Präsident von Fenerbahçe und der Kulüpler Birliği, wandte sich am Freitagnachmittag an die Öffentlichkeit und kritisierte die Mär des unpolitischen Sports ganz offen: „Ist es keine Politik, wenn vier Minister bei einer Meisterschaftsfeier Selfies mit der Mannschaft machen? Wäre die Entscheidung so getroffen worden, wenn die Zuschauer der Regierung zugejubelt hätten?“
Die Lage in den türkischen Stadien bleibt also weiterhin dynamisch. Für gewöhnlich lassen sich fanatische Fußballfans von staatlichen Repressionen nicht beeindrucken. Vielleicht haben die türkischen Behörden unter Mithilfe einzelner Vereine und dem Ligaverband gerade vielmehr eine Spirale in Gang gesetzt, die den „Hükümet istifa!“-Gesängen eine wesentlich größere Bedeutung verleihen wird. Dass die Kurven am Wochenende still bleiben werden, ist äußerst unwahrscheinlich.