Spitzbergen | Unter arktischen Russen: Die Bergbausiedlung Barentsburg wirkt kleine Menge extraterrestrisch

Auf Spitzbergen wird die kleine Bergbaustadt wegen des Ukraine-Krieges durch Norwegen boykottiert. Früher tauschten hier russische Bergleute Selbstgebrannten gegen norwegische Sexhefte. Das ist vorbei, aber Schiffsverkehr besteht noch


Die Bergbaugemeinde Barentsburg auf Spitzbergen beherbergt die nördlichste Lenin-Statue der Welt

Foto: picture alliance / TT NYHETSBYR?N | Jonas Ekstr?mer/TT



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Tief in der Hocharktis gibt es nur zwei ganzjährig bewohnte stadtähnliche Siedlungen: eine norwegische, den gut 2.500 multinationale Einwohner zählenden Tourismus-Ort Longyearbyen, und die russische Bergarbeitersiedlung Barentsburg am Isfjord. Bis zum 24. Februar 2022, dem Beginn des Ukraine-Krieges, wurden auf dem von Oslo verwalteten Archipel Spitzbergen intensive Beziehungen gepflegt. Früher tauschten russische Bergleute norwegische Sexhefte gegen Selbstgebrannten, zuletzt überwanden sie Spitzbergens Beinahe-Prohibition, indem sie Lollipops zu Wodka alchemierten.

Doch nun boykottiert Longyearbyen den russischen Staat. Da Barentsburg von dessen Unternehmen Arktikugol betrieben wird, betrifft der Boykott fast alles. Auch viele norwegische Bergarbeiter nehmen Wladimir Putin den Krieg übel und fahren privat nicht mehr rüber. Im Hallenbad von Longyearbyen lerne ich einen Ex-Barentsburger Bergmann kennen. Der kleine sehnige Familienvater mit den tiefen Augenhöhlen fällt mir auf, weil er eine kunstvoll gekreuzigte Frau in die Hüfte tätowiert hat. Auf seinem Kreuz findet man eine Kalaschnikow, eine Pistole und eine Uzi. Der Donezker arbeitete schon 2002 in der Barentsburger Kohlengrube, mit seinem Vater, auch dieser ein „Schachtjor“. Vor 14 Jahren kam er wieder, habe aber plötzlich für alles zahlen müssen, „für das Wohnheim, für die Kantine, sogar fürs Fernsehen“. Er arbeite daher lieber für einen norwegischen Anstreicher-Lohn in Longyearbyen. Vor den Kriegen habe er drei Jahre als Berufssoldat in der ukrainischen Armee gedient, „dieser ukrainische Pass ist aber mein letzter“. Zurück in die Ukraine will er nicht. Falls er müsse, „würde ich schnurstracks zu den Russen rübermachen“.

Kurz vor Einbruch der Polarnacht Anfang Oktober nutze ich eine der letzten Möglichkeiten, mit der man noch ins isolierte Barentsburg kommt – das Schiff „Polargirl“. Der Bootsausflug dorthin dauerte den ganzen Tag. „Vorn ein Walross!“, jauchzte auf Englisch die junge sibirische Reiseleiterin, eine am Moskauer Armee-Institut ausgebildete Dolmetscherin, die in der Sommersaison auf dem Fährschiff wohnt und im Winter mit ihrem amerikanischen Verlobten den Globalen Süden bereist. „Es ist wohl ein Männchen“, stellt sie fest. „Für weibliche Gesellschaft wird es zum fernen russischen Franz-Josef-Land schwimmen.“

Barentsburg empfängt mit Schneeflocken. Eine sowjetische Fahne, dazu viele russische. Verfallene repräsentative Holzbauten, lange sowjetische Wohnriegel. Die norwegischen Behörden zählten zum 1. September 340 Einwohner, darunter 219 Russen und 57 Ukrainer. Da viele Bergarbeiter aus dem annektierten Donbass stammen, rechnet Russland anders. Unser junger russischer Führer geht von zuletzt nur noch gut 200 Einwohnern aus, „die Hälfte davon Kohleschürfer, während hier vor nur 30 Jahren noch Lebensmittel für 1.500 Menschen produziert wurden“. Er hebt die schmale orthodoxe Holzkapelle hervor, erst 1999 zum Andenken an 130 am Flughafen Longyearbyen abgestürzte Kumpels in den atheistischen Sowjet-Skansen gestellt. Dass sich das eigentliche religiöse Leben in der neuen Indoor-Moschee abspielt, erfahren wir nicht. Auf dem Hügel thront „unser Konsulat“, ein gewaltiger, von den Anwohnern „Schloss“ genannter Bau. Der soeben gewählte Betriebsdirektor sei sehr auf die sowjetische Lokalgeschichte erpicht. Hier steht der „zweitnördlichste Lenin der Welt“, und die Parole „Unser Ziel ist der Kommunismus“ flattert weiter im Wind. „Das ist aber nicht wahr“, sagt der Guide zu den Touristen, „hier geht es nur um Kapitalismus und darum, das Geld und die Touristen anzulocken.“ Er führt ins menschenleere Lokal „Roter Bär“. Die Brauerei dort hat den Titel, die nördlichste zu sein, an die Konkurrenz in Longyearbyen verloren. Zu allem Überfluss ist kein Tropfen Bier mehr übrig – ausverkauft. Die Ausflügler lassen sich „78°“ aufschwatzen, eine Likörmischung auf der Basis von österreichischem „Stroh“-Rum. Meine mitgebrachten Rubel nimmt niemand.

Die wenigen Barentsburger, die man an diesem Nachmittag sieht, eilen alle dem Kultur- und Sportpalast entgegen. Ein sowjetschönes Hallenbad, davor einzelne Slawen beim Krafttraining und eine große Gruppe anders aussehender Männer, teils mit prächtig sprießenden Bärten, die mich auf ihrem Weg zum Volleyball-Match in der großen Halle fast umrennen. 60 Männer, etwa ein Viertel von Barentsburgs Bevölkerung, sind Tadschiken. Sie sind billiger als Russen und besorgen die Baustellen in- und außerhalb der Mine. Ich spreche mit einem 20-Jährigen aus Duschanbe. Er ist mit seinem Vater gekommen, der jetzt jedoch den Pier in der Geisterstadt Pyramiden repariert. Der Sohn hat noch neun Monate vor sich, die drei Monate vollkommener Dunkelheit im Winter machen ihn ein wenig bang. Als ich verspätet zum Schiff „Polargirl“ hetze, denke ich: Was für ein außerirdisch anmutender Ort.

Serie Europa Transit Regelmäßig berichtet Martin Leidenfrost über nahe und fernab gelegene Orte in Europa