So sah die erste „Friedensweihnacht“ in Deutschland aus
Sorge neben Trauer, Mangel neben Erleichterung, tiefe Depression neben Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Der Heilige Abend 1945 war im besetzten Deutschland emotional gespalten wie selten zuvor.
Völlerei geht anders. Beispielsweise in Hamburg durften Normalverbraucher über 18 Jahre auf die Lebensmittelkarte in der Zuteilungsperiode vom 9. Dezember 1945 bis 10. Januar 1946 für genau zehn Kilogramm Brot kaufen, dazu 600 Gramm Fleisch oder Fleischprodukte, 325 Gramm Butter und 75 Gramm Margarine, zwei Kilogramm Nährmittel wie Kartoffeln oder Steckrüben, ein Pfund Zucker, ein halbes Pfund Marmelade, exakt 62,5 Gramm Käse, ein halbes Pfund Kaffee-Ersatz und ein Viertelpfund Speisequark.
Das ergab rechnerisch 1550 Kalorien pro Tag für gewöhnlich arbeitende Deutsche in der größten Stadt der britischen Besatzungszone – auch zu Weihnachten. Polizisten, Gefängnisangestellte und Feuerwehrleute bekamen mit 1950 Kalorien etwas mehr; wer körperliche Schwerarbeit leistete, bei der Trümmerbeseitigung etwa oder als Schauermann im Hafen, durfte sich mit 2240 Kalorien am Tag „überfuttern“.
Wenn das nicht reichte, musste entweder gehungert werden. Oder man suchte auf dem Schwarzmarkt. Hier gab es ein Brot für 80 und ein Pfund Butter für 300 Reichsmark. Aber die eigentliche Währung waren englische oder (angesichts des Nachschubs nur ausnahmsweise) amerikanische Zigaretten, die pro Stück fünf Reichsmark entsprachen. Sachwerte, die den Krieg überstanden hatten wie Pelzmäntel und Teppiche, erbrachten mal ein paar hundert Reichsmark, mal einen kleinen Ofen, eine „Brennhex“, die ungefähr alles Brennbare verfeuern konnte. Unzählige Bücher und anderes Papier gingen für etwas Wärme durch das Ofenrohr aus oft nur provisorisch abgedichteten kaputten Fenstern.
Allerdings gab es auch positive Überraschungen: „Durch Einfuhr von Kartoffeln durch die britische Militärregierung ist es möglich, in den Städten Hamburg, Lübeck und Kiel einmalig ein Kilogramm Kartoffeln je Person zu verteilen“, meldete das „Hamburger Nachrichten-Blatt“ für die britische Zone am 22. Dezember 1945. Eine gute Nachricht zum Fest. Und nicht die einzige, denn Hamburger Kinder bis 6 Jahre bekamen ein Pfund Äpfel extra sowie eine Tafel Schokolade (50 Gramm) und eine Fruchtschnitte (62,5 Gramm). Die Süßigkeiten stammten aus alten Wehrmachtbeständen. Jungs und Mädchen über sechs Jahre gingen allerdings leer aus – für sie reichten die Vorräte nicht.
Frisch geschlagene Weihnachtsbäume gab es 1945 übrigens auf Abschnitt H des hamburgischen Haushaltspasses; im Sachsenwald waren genug herangewachsen in den vergangenen Jahren. Nach dem Fest wanderten sie kleingehackt ebenfalls in die „Brennhex“, um etwas Wärme zu spenden. Der wichtigste Christbaum-Schmuck hingegen war streng rationiert, wie das „Nachrichten-Blatt“ bekannt gab: „Die Verkaufsstellen dürfen mit sofortiger Wirkung auf den Abschnitt I des Haushaltspasses an Haushaltungen mit Kindern bis zu sechs Jahren sechs Weihnachtskerzen oder zwei Adventskerzen oder eine Haushaltskerze abgeben.“
Doch jenseits aller materiellen Beschränkungen war Weihnachten 1945 vor allem eines: das erste Fest im Frieden nach sechs Jahren Krieg. Nicht nur in Hamburg überwog deshalb Erleichterung. Der „Südkurier“, eine der ersten in Deutschland von den Siegermächten lizenzierte Zeitungen, eröffnete am 21. Dezember 1945 die (wegen Papiermangel) letzte Ausgabe vor Heiligabend mit einer Betrachtung des Priesters Eugen Walter: „Wir feiern Weihnachten — die erste Friedensweihnacht seit Jahren. Wie haben wir sie herbeigesehnt! Nun ist sie da.“
Der während des Dritten Reichs aus Freiburg in die Provinz versetzte Theologe fand angemessene Worte. „Wir wollen nicht vergessen, dass wir am vorjährigen Weihnachtsfest gesagt haben: ,Wenn nur einmal dieser sinnlose und entsetzliche Krieg vorbei ist…‘ Weiter wollten oder konnten die meisten damals noch nicht schauen“, schrieb der 39-jährige Gemeindepfarrer: „Aber in diesem ,Wenn nur einmal…‘ war nicht ganz leise wenigstens angedeutet ein Wissen darum, dass damit noch nicht alle Leiden vorüber sein würden. Dies eben dürfen wir nicht vergessen, wenn wir jetzt seufzen unter den Folgen des verlorenen, unter den Folgen des frevelhaft begonnen und frevelhaft geführten Krieges.“
Einen bemerkenswert anderen Tonfall schlug am 24. Dezember 1945 in der Weihnachtsausgabe der „Neuen Zeit“, der CDU-Parteizeitung in Berlin, der ebenfalls katholische Journalist Alfons Erb an. „Nur zögernd gehen die Gedanken zurück“, leitete er seine Erinnerung an den Heiligen Abend 1941 ein, den er als Sanitäter der Wehrmacht mit seinen Kameraden im Schnee und Eis vor Moskau erleben musste: „In den Gräben und Löchern hockten sie, und wenn sie sich ansahen, weinten sie wie verlassene Kinder.“ Und an den Dezember 1944. „Ardennen, vor einem Jahr: Hitlers Verzweiflungsoffensive hatte sich bereits am Truppenübungsplatz Elsenborn festgerannt. Unsere Hände, die Decken und Tragen waren rot vom Blut der sinnlos Geopferten. Fünf Stunden stand ich in der Heiligen Nacht mit den Verwundeten im Wagen auf der verstopften Straße.“
Dann sprang Erb in die Gegenwart: „Nun ist wieder Heiliger Abend, und es ist Friede. Wie haben wir uns in all den Jahren mit jeder Faser nach der ersten Weihnacht im Frieden gesehnt!“ Doch das reichte ihm nicht: „Kein wirklicher Christ kann sich mit dem erschütternden Kontrast zwischen der Liebe und dem Frieden der Christnacht und dem Rasen der Kriegsfurie zufriedengeben“, schrieb er: „Wer nicht aufs Schwerste unter diesem Kontrast gelitten hat, hat nicht wahrhaft an der Krippe gekniet.“
An diesem Montag bestand die „Neue Zeit“ aus fünf Seiten zuzüglich einer Seite Inserate, unter anderem seltsamerweise für Versicherungen („mit behördlicher Genehmigung“), Ärzte sowie die bereits zahlreichen wieder betriebenen Bühnen und Kinos. Nachrichten gab es nur auf der zweiten Seite, eine längere über Briefe von Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, vier mittlere und drei kurze. Den Großteil der Ausgaben machten Texte zum Fest aus, in verschiedenen Tonlagen: katholisch-kritisch bei Alfons Erb, politisch beim mit „-igk“ gezeichneten Leitartikel, vor allem aber besinnlich in Texten beispielsweise von Gertrud Bäumer, Hilde Körber und August Scholtis.
In München, dessen Gebäudebestand etwa zur Hälfte zerstört war, die historische Innenstadt sogar zu 90 Prozent, notierte am 22. Dezember 1945 die 44-jährige Lehrerin Marianna Bronner in ihr Tagebuch: „Die Stimmung ist trostlos, schenken kann man heuer zu Weihnachten nichts, gar nichts. So arm war Weihnachten noch nie. Ein grüner Tannenbaum und ein weißer Kaffeekuchen (Mehlsonderzuweisung) – das ist Weihnachten!“ Offensichtlich tief deprimiert schrieb sie zwei Tage später: „Die Sehnsucht aller ist, den Heiligen Abend heuer aus dem Kalender zu streichen. Die Küche ist arm bestellt, der Gabentisch leer, der Raum nicht sonderlich warm. Existenzlosigkeit allüberall.“
Weihnachten 1945 war emotional seltsam gespalten: Einerseits gab es jenseits aller materiellen Sorgen viel Erleichterung über das Ende des mörderischen Kämpfens und Sterbens. Andererseits lebten die allermeisten Familien in Sorge um verschollene Angehörige oder in Trauer um Tote – viele mussten sogar beides zugleich ertragen. In jedem Fall war dieses Fest eine Zäsur. Zehn Jahre später blickte ein Hamburger zurück auf den Heiligen Abend 1945: „Wir vergaßen alle, dass unser Magen knurrte. Denn die Weihnachtsbotschaft war ja Wirklichkeit geworden: ,Friede auf Erden‘.“
Source: welt.de