Siemens-Chef Roland Busch und Mercedes-Chef Ola Källenius im Interview

Källenius: Ich wähle das Motto Wirtschaftswunder 2.0. In den Fünfzigerjahren ging es um Wiederaufbau, heute um den Umbau. Das ist nicht direkt vergleichbar, aber viele Unternehmen gehen gerade durch eine grundlegende Transformation. Dabei geht es um Dekarbonisierung und um Digitalisierung. Hier bei Mercedes-Benz in der Factory 56, einer der modernsten Autofabriken der Welt, produzieren wir auf ein und demselben Band Autos mit elektrischen Motoren, mit Hybridantrieben und mit Verbrennern. Diese Fabrik ist ein Beispiel dafür, dass unsere Unternehmen in den vergangenen 75 Jahren die Grundlage dafür geschaffen haben, um die aktuelle Transformation erfolgreich zu bewältigen. Wir haben die Technologien, das Wissen und die Innovationen, um die Position, die wir aufgebaut haben, weiter zu stärken – und so sicherzustellen, dass wir auch die künftigen Jubiläen feiern können.

Inwieweit basiert das wirtschaftliche Erfolgsmodell Bundesrepublik auf dem Grundgesetz, das ja keine konkrete Wirtschaftsordnung umfasst?

Källenius: Das Grundgesetz ist eine der besten Verfassungen der Welt. Wir leben in einer Sozialen Marktwirtschaft, die geprägt ist von Demokratie, Freiheit, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit. Nur in so einem Umfeld kann Unternehmertum entstehen. Dieser Rahmen war die Voraussetzung für das Wirtschaftswunder. Es ist ein unglaublich hohes Gut, dass man sich auf die Rahmenbedingungen in Deutschland verlassen kann. Dort investiert man gerne, und dort geht man dann auch eher unternehmerische Risiken ein. Was wir heute als Selbstverständlichkeit sehen, war in den Anfangsjahren der Bundesrepublik einzigartig und eine Besonderheit.

Busch: Genau diesen Werterahmen müssen wir wieder neu schätzen lernen. Deswegen haben wir auch die Allianz „Wir stehen für Werte“ gegründet. Neben Mercedes und Siemens sind mehr als 30 weitere Dax-Unternehmen, Mittelständler, Start-ups sowie der Bundesverband der Deutschen Industrie und der Deutsche Gewerkschaftsbund Teil der Allianz, die für Vielfalt, Offenheit, Toleranz steht. Werte, die wir in den vergangenen 75 Jahren gelebt haben. Zum Wirtschaftswunder gehören aber auch die Millionen von Gastarbeitern, die mitangepackt haben. Gerade die Wachstumsraten in den 50er- und 60er-Jahren von durchschnittlich mehr als 8 Prozent wären ohne sie nicht möglich gewesen. Dass unser System offen war für Menschen, die anpacken wollten, offen war für Ideen, für Innovationen, ist Teil des Erfolgsmodells. Und genau dafür steht das Grundgesetz.

Der SPD-Politiker Carlo Schmid, einer der Gründerväter des Grundgesetzes, sagte, eine Verfassung sei die Gesamtentscheidung eines freien Volkes über die Formen und die Inhalte seiner politischen Existenz. Nicht nur der Blick auf die Zersplitterung der Parlamente verrät, dass die Gesellschaft immer stärker zerfällt. Besteht dieser Grundkonsens trotz erstarkender Partikularinteressen noch?

Busch: Der Konsens ist noch da, aber er ist bedroht. Extremismus und Rassismus gefährden den Zusammenhalt der Gesellschaft, den wir brauchen. Es werden einfache Antworten auf komplexe Fragen gegeben, Antworten, die so nie funktionieren werden. Das spaltet eine Gesellschaft und höhlt unsere liberale Demokratie aus. Und das ist auch der Grund, warum wir uns zu Wort melden.

Källenius: Die Globalisierung und auch die Digitalisierung haben die Welt komplexer gemacht. Es ist für jeden schwieriger geworden, sie zu überblicken. Ich kann durchaus verstehen, dass das zu Unsicherheit führt. Was passiert mit mir, mit meinem Arbeitsplatz? Gerade noch haben wir hier in Baden-Württemberg zu den wirtschaftsstärksten Regionen gehört, und nun soll das alles gefährdet sein? Wir müssen uns auf das besinnen, was uns zusammenhält und als Gesellschaft stark macht. Fleiß, Ehrgeiz, Respekt füreinander. Und Weltoffenheit. Als Exportnation können wir uns ein Abkapseln nicht leisten. Das würde uns schwächer machen, wir würden Arbeitsplätze verlieren, nicht gewinnen. Wir müssen den Menschen aber auch deutlich machen, dass wir uns unsere starke Position jeden Tag neu erkämpfen müssen. Und ihnen die Vorteile unseres exportorientierten Modells immer wieder neu erklären.

Sie ziehen den Schluss, dass die Menschen aus Angst vor der Globalisierung den gesellschaftlichen Konsens infrage stellen, ihn nicht mehr schätzen und damit das Fundament unserer Stabilität auch nicht mehr schützen?

Källenius: An den politischen Rändern der Gesellschaft ist das so. Von dort kommen die Rufe, sich von Europa abzuwenden. Doch wer glaubt, dass sich ein Rückzug aus Europa für die Bundesrepublik auszahlen könnte, der irrt gewaltig. Mehr als 50 Prozent unserer Exporte gehen in die Länder der Europäischen Union. Wenn wir Europa als Gesamtmarkt sehen, wäre das der zweitgrößte Markt für Mercedes-Benz. Die Antwort muss also heißen: Wir brauchen „mehr und ein besseres Europa“, nicht „weniger Europa“. Wir dürfen nicht vergessen, was die Basis ist, auf der wir stehen, und was die wirklichen Zusammenhänge sind, die zu Stabilität und Wohlstand führen. Nur ein handlungsfähiges Europa kann unsere Freiheit und unsere wirtschaftliche Zukunft schützen.

Die Abstiegsängste fressen sich aber mittlerweile von den Rändern weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Können sich denn Ihre Beschäftigten, die zumeist zu den gut bezahlten Arbeitnehmern gehören, in Stuttgart oder München noch eine Wohnung leisten?

Busch: So eine pauschale Frage ist schwierig zu beantworten. Ich denke, die Menschen, die wir beschäftigen, können sich auch in München oder Nürnberg eine Wohnung leisten und dort gut leben. Aber es gibt auch viele Menschen, für die das schwierig wird, weil sich Wirtschaft und Gesellschaft gerade so schnell verändern und unser Wohlstand gefährdet ist. Wir haben einen ganzen Strauß an Themen, die wir deshalb endlich angehen müssen. Da ist der Umbau unseres Energiesystems, da ist die Erneuerung unserer Infrastruktur, da ist der Aufbau der Verteidigung, da ist die Ertüchtigung unseres Schul- und Ausbildungssystems, da ist das ungelöste Wohnungsproblem. Dazu kommen internationale Krisen, die eine zunehmende Migration ausgelöst haben. Ein Schlüssel zur Lösung dieser Probleme in Deutschland ist Wachstum – wir brauchen ein Wirtschaftswunder 2.0. Wenn wir die Probleme endlich anpacken, werden die Menschen auch wieder anders auf ihre Zukunft schauen. Wir haben alle Karten in der Hand. Wir müssen sie ausspielen, um die Pole Position, die wir haben, zu verteidigen und auszubauen.

Der Wirtschaftsminister des Nachkriegsaufschwungs, Ludwig Erhard, schrieb einst: „Ich habe totalitären Herrschaftsformen zu bewusst widerstanden, als dass ich heute nicht das Recht hätte, gewisse Schwächen der Demokratie anzusprechen. Diese liegen nicht so sehr in den demokratischen Spielregeln selbst als in der Art und dem Geist ihrer Handhabung.“ Übertragen auf die heutige Zeit: Ist der Staat zu tolerant gegenüber Rechtsextremen und Islamisten, die teilweise offen seine Abschaffung als Ziel ausrufen?

Källenius: Wir haben ein Grundgesetz. Das ist die Grundlage, die unser gemeinsames Leben in der Gesellschaft regelt. Diese Grundlage gilt für alle Bürgerinnen und Bürger. Wenn man sie aktiv unterminiert, ist es die Aufgabe des Staates, das nicht zu tolerieren und verfassungsfeindlichen Kräften entschieden entgegenzutreten. Dabei ist es wichtig, dass auch der unbequeme politische Diskurs unbehindert und frei stattfindet – solange er sich im demokratischen Rahmen bewegt. Hier die Balance zu finden ist nicht immer einfach. Klar ist: Unsere Gesellschaft würde nicht mehr funktionieren, wenn Kernelemente des Grundgesetzes nicht mehr gelten würden.

Im Herbst stehen drei Landtagswahlen an, bei denen die AfD, die in Teilen als rechtsextremistisch unter Beobachtung steht, in einigen Bundesländern zur stärksten Kraft werden könnte. Was ist die Rolle der Wirtschaft in diesem Konflikt?

Busch: Wir wehren uns gegen die Politik extremistischer Parteien. Krude Gedanken wie Remigrationspolitik und Ausländerfeindlichkeit überschreiten eine rote Linie. Das ist absolut inakzeptabel in einer Welt, in der die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen weltweit eben nicht Deutsche sind. Wir leben davon, dass wir eine diverse, eine offene, eine tolerante Kultur haben. Es gilt das Grundgesetz, die Würde, die Gleichheit und die Freiheit. Und diese Werte gilt es zu leben, zu verteidigen. Dafür müssen wir aufstehen – als Wirtschaft, aber auch als Politik. Es gibt immer dann eine Drift zu den Extremen, wenn die Dinge im Umbruch sind, wenn die Wirtschaft unter Druck gerät und auch wenn die Mi­gration einen negativen Beigeschmack hat, weil sie schlecht gemanagt ist. Noch einmal: Wenn unser Zusammenhalt, der auf unseren Werten beruht, aus den Fugen gerät, haben wir ein Problem. Deshalb müssen wir jetzt aufstehen und einschreiten.

Källenius: Wir haben in Deutschland 114.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus 121 Nationen. Das Werk hier in Sindelfingen, die ganze Stadt und Region haben enorm von Zuwanderung profitiert, von den ersten Gastarbeitern bis zu unserer vielfältigen Belegschaft heute. 2024 würde bei uns kein einziges Auto vom Band laufen ohne Menschen mit Migrationshintergrund. Ohne sie wären diese Autos auch nicht entwickelt worden. Werte wie Toleranz und Offenheit, Demokratie und Freiheit sind extrem hohe Güter. Ein Austritt aus der EU, wie die AfD ihn zum Teil fordert, wäre eine wirtschaftliche Katastrophe. Ich frage mich oft, ob die handelnden Personen, die mit ihren Parolen die entscheidenden Werte negieren, tatsächlich verstehen, was die Konsequenzen sind. Wir müssen deutlich machen, wie gefährlich eine solche Politik wäre.

Wie machen Sie das?

Källenius: Wir beteiligen uns an Kampagnen, wir informieren, wir versuchen für Aufklärung zu sorgen, wir gehen in Betriebsversammlungen und reden mit den Menschen. Wir setzen aber auch klare Grenzen mit klaren Verhaltensregeln. Rassismus und Diskriminierung haben bei uns keinen Platz. Unternehmen können ihren Teil beitragen. Aber wir sind die Wirtschaft, nicht die Politik. Wir können nicht die Politik ersetzen. Die Politik muss den Bürgerinnen und Bürgern ein Angebot machen – und aufzeigen, was das attraktivere Modell ist. Und wir Bürger wiederum müssen das auch aktiv einfordern.

Busch: Ganz wichtig ist natürlich auch, dass wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu aufrufen, wählen zu gehen.

Der schwäbische Unternehmer Reinhold Würth hat in seinem sehr persönlichen Brief an seine Mitarbeiter vor der AfD gewarnt. Könnten Sie sich solch ein Schreiben auch vorstellen?

Källenius: Ich habe den Brief von Reinhold Würth gelesen. Ich finde das ganz stark, dieses Engagement verdient Respekt. Bei Mercedes-Benz würdigen wir mit unserer Kampagne „Freiheit ist ein starker Motor“ das Grundgesetz, und wir rufen dazu auf, wählen zu gehen. Dieser Aufruf ist parteipolitisch neutral, jeder wählt seine Richtung, aber die Werte des Grundgesetzes dürfen nicht infrage gestellt werden. Wir wollen im Rahmen unserer Möglichkeiten im Unternehmen deutlich machen, auf welchem Fundament das deutsche Erfolgsmodell beruht.

Busch: In diesem Punkt sind wir uns einig. Deshalb haben wir auch die schon genannte Allianz „Wir stehen für Werte“ gegründet.

Sie haben gesagt, die Welt ist auch wegen der technologischen Transformation unglaublich komplex geworden. Wie kann man die Menschen in diese neue Welt mitnehmen, damit sie keine Ängste haben, abgehängt zu werden, damit sie nicht sagen: „Ich möchte meine alte Welt wiederhaben“, und an der Wahlurne den Leuten ihre Stimme geben, die sagen: „Ich rette die alte Welt“?

Källenius: Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Fortschritts. Deswegen gibt es keine alte Welt, und es hat sie nie gegeben. Erfindungen haben immer die Welt verändert. Kein Mensch sagt: „Jetzt bleiben wir stehen.“ Und Unternehmen könnten mit dieser Mentalität sowieso nicht erfolgreich sein. Aber die Frage ist natürlich, wie man für technologische Neuerungen positive Akzeptanz schafft. Beispiel Künstliche Intelligenz: Nachdem unsere Ingenieure solche Tools in die Hand bekommen haben, waren sie nicht zu bremsen und haben sie eingesetzt, um unsere Autos noch sicherer und noch komfortabler zu machen. Genauso im Servicebereich, wenn in einer Millisekunde die benötigten Informationen zur Verfügung stehen. Meine Erfahrung ist, dass die Menschen von sich aus Neuerungen annehmen. Die Geschichte der technologischen Durchbrüche – von der Dampfmaschine über den Verbrennungsmotor bis zur heutigen Elektromobilität – zeigt das. Und diese Durchbrüche haben nie zu weniger Wirtschaftsleistung, sondern immer zu mehr Wohlstand für alle geführt. Wir bei Mercedes-Benz kämpfen mit dieser Einstellung um jeden einzelnen Kunden.

Ihre Augen leuchten, wenn Sie über technologische Neuerungen sprechen. Aber die Realität in Unternehmen ist doch eine andere. Da gibt es Change-Manager, die den Mitarbeitern neue Prozesse nahebringen sollen und daran scheitern, dass keiner die Chatfunktion bei Teams benutzen will.

Källenius: Meine Leidenschaft kommt aus den Gesprächen mit meinen Mitarbeitern. Und wenn Sie sich mit den Leuten hier in der Fabrik unterhalten, dann würden Sie meine Leidenschaft sogar als Zurückhaltung beschreiben. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Erfindergen zur Kultur der deutschen Wirtschaft gehört und tief in ihr verankert ist. Diese Kreativität ist unsere Stärke, und die müssen wir immer wieder neu kultivieren.

Sie haben gesagt, die Bundesrepublik braucht ein Wirtschaftswunder 2.0. Wie kann Deutschland den Erfindergeist aus Unternehmen wie Mercedes und Siemens in einen gesellschaftlichen Aufbruch umwandeln?

Busch: Die Welt befindet sich in der Transformation, die Digitalisierung beschleunigt alles. Und diese Veränderungen treffen Deutschland stärker und massiver als alle anderen, weil wir eine Industrienation sind, für die Technologie essenziell ist. Wir leben von Technologie, wir exportieren sie, weil wir innovativer sind als andere. Wenn die Leute also sagen, wir wollen keine Veränderungen mehr, dann haben wir ein substanzielles Problem. Eigentlich müssten wir die Veränderungen noch stärker umarmen, noch stärker vorantreiben. Das gehört zu den wichtigsten Aufgaben von Managern wie Ola und mir. Doch es kommt noch etwas hinzu: Wir müssen morgens aufstehen und sagen: Ich möchte besser werden, ich möchte lernen, ich möchte die Technologie einsetzen. Denn die Wettbewerber machen genau das – und zum Teil schneller und effektiver.

Källenius: Ich möchte daran anknüpfen. Wir – und nachdem ich nun seit fast einem Jahr einen deutschen Pass habe, darf ich sagen wir –, wir Deutschen haben die Neigung, sehr selbstkritisch zu sein. Selbstkritik an sich ist nichts Schlechtes, aber sie darf nicht bremsen, sie muss der Ansporn sein, besser zu werden. Die innere Unruhe eines Gottlieb Daimler, das Beste oder nichts zu schaffen, muss dafür sorgen, dass man immer weiter voranschreitet. Es ist wie im Fußball: Wenn eine Mannschaft 1:0 führt und dann versucht, den Vorsprung zu verwalten, wird das schiefgehen. Man darf niemals aufhören, auf Angriff zu spielen. Und darum geht es auch jetzt: Wir haben in den vergangenen 75 Jahren viel erreicht, aber wenn wir jetzt nicht weiter voranschreiten, werden wir unseren Vor­sprung verspielen. Jedes Unternehmen muss sich weiterentwickeln, wachsen, profitabel bleiben und Innovationen auf die Straße bringen. Und natürlich muss im Zusammenspiel mit der Wirtschaft auch die Politik ihren Teil dazu beitragen, indem sie das Spielfeld so wettbewerbsfähig gestaltet, dass die Unternehmen erfolgreich sein können. Das geht nur im Schulterschluss.

Ihre Dienstreisen führen Sie nach Schanghai, ins Silicon Valley oder nach Indien. Sie sehen vor Ort, wie hungrig die Menschen dort sind auf mehr Wohlstand und persönlichen Erfolg. Die meisten Arbeitnehmer in Deutschland sehen das aber nicht. Sie sehen vielmehr, dass wir in Deutschland einen Arbeitnehmermarkt haben, dass der Nachbar nur noch vier Tage in der Woche arbeitet und dass über Linkedin ständig neue Stellenangebote hereinkommen. Wie wollen Sie in einer satten Gesellschaft das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines neuen Aufbruchs schaffen?

Busch: Wir leben in einer alternden Gesellschaft. Wenn wir durch Immigration keine neuen Arbeitskräfte bekommen, haben wir jedes Jahr weniger Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Die Folge ist ein schleichender Verfall der Wettbewerbsfähigkeit. Früher hat sich das dadurch bemerkbar gemacht, dass Leute entlassen wurden. Heute ist es so, dass wir noch immer Vollbeschäftigung hätten, auch wenn wir mit dem Wachstum noch einmal runterrauschen. Das ist eine trügerische Sicherheit. Das geht vielleicht eine Weile gut. Wir dürfen die Leute doch nicht dafür bezahlen, dass sie nicht arbeiten. Die Viertagewoche, am besten noch bei vollem Lohnausgleich, wird nicht funktionieren. Wir müssen uns klar darüber werden, dass es mittlerweile Wettbewerber gibt, die auch Autos oder Industriesteuerungen bauen können. Aus China kommen keine Kopien mehr, da kommen echte Innovationen. Beschäftigte in den USA arbeiten rund 500 Stunden im Jahr mehr als wir in Deutschland. Wir dürfen nicht warten, bis unser Wohlstand sukzessive den Bach runtergeht. Wir müssen die Realitäten aufzeigen, um den Aufbruch herbeizuführen.

Haben Sie das Gefühl, dass diese Botschaft ankommt? Dass von einer breiten Öffentlichkeit wirklich gesehen wird, dass unser Wohlstand bedroht ist?

Källenius: Als Unternehmen steigen wir in den Dialog ein, um ein Bewusstsein für die tatsächliche Lage zu schaffen. Wir gaukeln nichts vor, wir erklären. Aber natürlich gehören auch die Rahmenbedingungen dazu. Die Bundesregierung hat ein modernes Einwanderungsgesetz verabschiedet, das war absolut wichtig, denn wir müssen die Zuwanderung von Fachkräften einfacher gestalten. Zudem müssen wir die Arbeitsplatzreserven hier bei uns im Land nutzen. Wir gehören zu den ganz wenigen OECD-Ländern, die noch keine vollständige Ganztagesbetreuung haben, damit beide Partner eines Haushalts arbeiten können. Ich bin in Schweden aufgewachsen, dort arbeiten seit Jahren EU-weit mit die meisten Frauen – zuletzt rund 82 Prozent. Wir müssen insgesamt mehr Anreize schaffen, wieder mehr und länger zu arbeiten: Vielleicht ist die Einkommensbesteuerung nach Eintritt des gesetzlich geregelten Rentenalters künftig eine andere als bis zum Eintritt. Vielleicht wird die erste Überstunde bald anders besteuert als die Regelarbeitszeit. Mit all diesen Maßnahmen kann sich die Wirtschaftsleistung vergrößern.

In den Aufbaujahren der Bundesrepu­blik gab es diese Aufbruchsmentalität, da hat jeder am Samstagabend noch gearbeitet, um sich den VW Käfer, den Italien-Urlaub oder das Eigenheim zu leisten. Angesichts des aktuellen Wohlstands sind wir von einem solchen neuerlichen Aufbruch doch weit entfernt.

Busch: Wohlstand ist kein Argument dafür zu sagen, ich bringe mich nicht mehr ein. Wir brauchen ein Anreizsystem, damit die Menschen arbeiten. Und je mehr man dafür sorgt, dass Leute, die arbeiten können, fürs Nichtarbeiten bezahlt werden, desto einfacher mache ich es den Leuten natürlich zu sagen: Das Bürgergeld reicht auch. Wir müssen Leistungsbereitschaft honorieren. Wir müssen die Leute motivieren, von sich aus etwas beizutragen, den Wandel zu gestalten, die Welt besser, klimaneutral zu machen, indem sie zum Beispiel studieren und versuchen, Batterien zu optimieren und Turbinen effizienter zu machen. Aufgaben haben wir genug.

Welche Aufgabe haben Unternehmen dabei?

Källenius: Arbeit ist für die allermeisten Menschen sinnstiftend. Arbeit ist ein großer Teil des Lebens. Daraus ergibt sich die eigene ökonomische Stabilität, aber eben häufig auch Zufriedenheit. Unsere Aufgabe als Unternehmen ist es, zu ermöglichen, dass die Menschen gerne und engagiert arbeiten. Dass sie arbeiten wollen! Wir müssen einen Rahmen schaffen, in dem jeder abruft, was er oder sie eben abrufen kann, und dann zufrieden nach Hause geht.

Busch: Hinzu kommt natürlich, dass wir jedem unserer Mitarbeiter aufzeigen, was er mit seiner Arbeit zum großen Ganzen beiträgt – zur Gesellschaft, zur Umwelt, zur Reduktion der Kohlendioxidemissionen. Also, der Sinn der Arbeit ist entscheidend für die Erfüllung der Menschen.

Herr Källenius, werden solche Debatten auch in Schweden geführt?

Källenius: Natürlich werden solche Debatten auch in Schweden geführt. Und auch da geht es immer darum, Anreize zu schaffen, damit die Menschen arbeiten. Und es geht dabei immer um das Gefühl von Fairness und Gerechtigkeit. Wenn 90 Prozent der Bevölkerung das Gefühl haben, dass die restlichen 10 Prozent das System ausnutzen, dann entsteht Unzufriedenheit. Aber wenn alle Gesetze darauf angelegt sind, die Leistungsbereitschaft zu fördern und Arbeitsanreize zu setzen, wird die Stammtischdebatte zurückgehen. Klar ist, dass wir in Deutschland leistungsbereite Arbeitnehmer brauchen, wir sind eine Volkswirtschaft, die sich nicht mit Wachstumsraten von 0,3 oder 0,4 Prozent zufriedengeben darf. Ein gesundes Wachstum liegt über 2 Prozent – das sollten, nein, das müssen wir anstreben. Dafür brauchen wir wieder mehr „Schaffer-Mentalität“, wie wir hier im Schwäbischen sagen – in der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik.

Mit Arbeitsanreizen allein werden Sie wahrscheinlich den Wachstumsturbo nicht anwerfen können. Was ist noch nötig?

Källenius: Wir brauchen Ingenieurinnen und Ingenieure – und dafür sind die naturwissenschaftlichen Fächer in der Schule ausschlaggebend. Wir haben gute Schulen und Universitäten, wir müssen dieses Programm aber in Richtung MINT-Fächer, Informatik und Chemie ausbauen. In der Steuerpolitik sind wir nicht grundsätzlich verkehrt unterwegs, aber es kommt auch dort auf die Feinheiten an. Aus Deutschland ein Niedrigsteuerland wie Irland zu machen würde nicht funktionieren. Aber es ist schon ein Unterschied, ob die durchschnittliche Steuerlast bei 28 oder 25 Prozent liegt. Hier geht es nicht so sehr um Großkonzerne wie Mercedes oder Siemens. Das können wir verkraften. Aber viele Mittelständler leben von einstelligen Margen, und da können genau die drei Prozentpunkte den Unterschied ausmachen, ob ein Unternehmen in Land A oder Land B investiert. Kapital wählt per se kein Land und keine Partei. Kapital wählt eine risikoadjustierte Rendite, da werden alle Faktorkosten berücksichtigt. Und in Deutschland brauchen wir den Mittelstand – die Autoindustrie ist der ultimative Teamsport, bei uns wird kein Fahrzeug gebaut ohne die vielen Mittelständler. Wir brauchen Siemens, aber wir brauchen auch Schmidt und Sohn auf der Schwäbischen Alb.

Busch: Andere Länder fördern Forschung und Innovationen viel gezielter, als wir das tun. Bei uns sollten auch große Unternehmen zum Beispiel attraktive und unbürokratische Steueranreize für Forschung erhalten. Mittelständler kämpfen in der Forschung häufig mit der komplexen Förderlandschaft auf den Ebenen von Land, Bund und EU. Das müssen wir ändern, wenn wir wirklich vorne mitspielen wollen. Dann stockt nach wie vor die Digitalisierung unserer Prozesse – gerade mit Blick auf die Genehmigungen von Behörden.

Und wir dachten schon, dass die Bürokratie gar nicht mehr zur Sprache kommt. In Gesprächen mit Mittelständlern kommt das Thema meist schon in den ersten fünf Minuten auf den Tisch. Ist das bei Dax-Konzernen also kein großes Problem?

Busch: Doch, natürlich, das ist ein Riesenthema, weil es überall Steinchen im Getriebe gibt, die alles verlangsamen. Es kann doch nicht sein, dass es sechs Monate dauert, bis ein Visum für einen Mitarbeitenden aus China, Indien oder den USA da ist. Die Welt bleibt nicht stehen, sie beschleunigt sich, und selbst Länder wie Indien haben uns bei der Digitalisierung überholt. Unsere Infrastruktur ist marode und unterinvestiert. Das haben wir erkannt, nun wird mehr investiert. Aber es kann doch nicht sein, dass der Genehmigungsprozess für eine neue Bahnstrecke zehn Jahre braucht – und dann habe wir noch kein Stück Strecke gebaut. In vergleichbarer Zeit werden wir 2000 Kilometer Schienennetz in Ägypten gebaut haben.

Und wie läuft die Transformation des Energiesystems?

Busch: Wir müssen die gesamte Energieversorgung umbauen. Angesichts der Tatsache, dass wir das billige Gas nun nicht mehr haben, müssten wir jetzt beim Netzausbau in die Vollen gehen. Wir reden seit Jahren darüber, dass die Verteilnetze und die Übertragungsnetze komplett unterinvestiert sind. Wir brauchen unendlich lang, bis wir mal eine Trasse von Norden nach Süden legen. Das ist doch absurd. Und ich rede nicht einmal von einem Supergrid, das ganz Europa vernetzt – das wäre wirklich eine große Errungenschaft. Wir schalten Innovationen in Reihe. Nehmen Sie das Beispiel Wasserstoff: Wir warten, bis wir grünen Wasserstoff haben, bevor wir anfangen, die Wasserstoffinfrastruktur aufzubauen. In den USA oder China fangen sie mit jeder Farbe an, da ist der Wasserstoff am Anfang halt mal grau – also nicht komplett mit erneuerbaren Energien erzeugt. Aber sie kommen so ins Geschäft und an Investitionen.

Aber die Bundesregierung hat doch schon eingelenkt und will jetzt mit blauem Wasserstoff anfangen, bei dessen Produktion zwar Kohlendioxid entsteht, das aber abgespalten und im Meeresboden vor Norwegen verpresst werden soll.

Busch: Aber das ist genau der Punkt. Es geht nicht darum, auch irgendwie dabei zu sein. Wir müssen ganz vorne spielen. Wir müssen schneller sein als die anderen. Wir sind schlichtweg viel zu langsam. Die Ansage der Politik war: Wir stellen vier bis fünf Windturbinen am Tag auf. 2023 war es nicht mal eine am Tag. Das heißt, die, die wir nicht aufgestellt haben, müssen wir alle noch hinten dranhängen. In dem Tempo wird das noch sehr lange dauern. Eigentlich müssten wir zudem auch noch viele Gaskraftwerke bauen – und zwar jetzt, damit wir unsere Versorgung sichern, weil wir ja unser Energiesystem umbauen wollen.

Das ist kein gutes Zeugnis.

Busch: Nein, das ist es nicht. Sagen wir mal ein mittelmäßiges. Es ist ja nicht alles schlecht. Im Gegenteil. Unser Standort hat viele positive Aspekte. Das ist mir ganz wichtig. Deshalb investieren wir auch massiv in Deutschlands Zukunft. In unsere Standorte in Berlin, Erlangen oder unser neues Forschungszentrum nördlich von München. Aber dennoch ein Punkt zur Situation in Europa. Wenn sie ein Start-up-Unternehmen gründen wollen, dann tun sie das eher nicht in Europa. Das liegt nicht nur am schwierigeren Zugang zu Kapital. Wenn ich zum Beispiel ein digitales Plattformgeschäft über eine Akquisition hochskalieren möchte, dann misst die Kommission meinen Marktanteil in 27 Ländern, und ich bekomme bestenfalls Auflagen, schlechtesten falls keine Genehmigung. Wenn wir jetzt eine industrielle Plattform für das Internet der Dinge bei uns zu einem Erfolg machen wollen, müssen wir das ändern. Sonst gibt es solche Entwicklungen bei uns in Europa nicht. Hier müssen wir viel europäischer Denken.

Das war hoffentlich der letzte Punkt der Mängelliste.

Busch: Nennen wir es lieber Möglichkeiten zur Verbesserung. Und einen hätte ich noch. Ich finde es richtig, dass man den Umgang mit personenbezogenen Daten reguliert. Aber nur bis zu einem Minimum, etwa um Copyright-Verletzungen oder das Kopieren biometrischer Daten zu verhindern. Aber warum muss man mit dem EU Data Act noch ein Regelwerk draufsetzen, das zum Beispiel im Maschinenbau beachtlichen Verwaltungsaufwand und Mehrkosten mit sich bringt, obwohl es bereits Regulierungen für diese Maschinen gibt? Den Mehrwert für die Kunden sehe ich hier nicht, da diese im industriellen Umfeld sowieso die Datenhoheit haben. Für Hersteller wird es mit dem Data Act zudem schwieriger, neue datenbasierte Geschäftsmodelle zu entwickeln. Überträgt man den Data Act auf das Autofahren, wäre es so, als müsste man bei jedem Parken in der Stadt eine Meldung an die EU schicken und mitteilen, dass mein Auto regulär geparkt ist. Mit solchen Gesetzen bremsen wir uns komplett aus. Dabei hätten wir es in der Hand, dass wir ganz weit vorne mitspielen könnten, wenn wir die richtigen Schlüsse ziehen und unser Geschäftsmodell verteidigen.

Källenius: Roland hat vollkommen recht, auch in diesen Fragen müssen wir Europa konsequenter denken. Einheitliche Regelungen würden Europa als Wirtschaftsregion stärker machen und die Barrieren und Kosten für die Unternehmen senken. Die Idee eines Supernetzes wäre ein Traum und für mich auf europäischer Ebene ein absolutes Topthema. Und dazu sollten aus meiner Sicht eine komplette Finanzmarktinte­gration und am liebsten auch eine Bankenunion kommen. Alle diese Effekte würden sich positiv verstärken und Deutschland und Europa resilienter machen im Hinblick auf den Wettbewerb mit China und den USA.

Herr Källenius, Sie sind in Schweden aufgewachsen. Wie haben Sie als Kind und Jugendlicher auf die Bundesrepu­blik geblickt?

Källenius: Schweden ist von der Bevölkerung her ein kleines Land. Als Schwede weiß man, dass man sich nicht in sein eigenes Schneckenhaus zurückziehen kann. Dieser Wunsch, in die Welt zu gehen, für jemanden, der in die Wirtschaft wollte, war normal und wurde zu Hause auch begrüßt. Als Kind habe ich eineinhalb Jahre in Deutschland gelebt, deshalb ist es vielleicht keine Überraschung, dass ich in Deutschland gelandet bin. Es hätte allerdings auch ein anderes Land sein können. Aber mich hat es zum Stern gezogen, und ich bin froh, dass sie mich damals genommen haben.

Jetzt haben Sie vor fast einem Jahr die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. So eine Entscheidung trifft man nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen. Was hat den Ausschlag gegeben?

Källenius: Ja, so eine Entscheidung ist auch eine Herzensangelegenheit. Ich lebe hier, ich arbeite hier, meine Frau ist Deutsche, unsere Kinder sind hier aufgewachsen. Nach 30 Jahren möchte man die Mitgliedschaft in dem Verein, in dem man spielt, auch haben. Dass es emotional war, sieht man auch daran, dass ich meine schwedische Staatsbürgerschaft nicht aufgegeben habe. Beim Fußball hat es mir jetzt geholfen, denn da die Schweden bei der EM diesmal nicht dabei sind, habe ich wenigstens das deutsche Team im Turnier. Über die rationale Komponente haben wir eben gesprochen: Ich darf den nächsten Bundestag wählen. Das ist als Bürger des Landes wichtig. Und ich werde von diesem Recht Gebrauch machen. Im Juni fange ich mit dem Wählen hier an – bei der Europawahl.

Was würde Ihre schwedische Hälfte Ihrer deutschen Hälfte raten? Hätten Sie einen Tipp?

Källenius: Mehr Can-do-Mentalität. Mehr gestalten statt verwalten. Stolz sein auf das Erreichte, aber hungrig bleiben, sich weiter zu verbessern. Und immer nach vorne schauen, immer auf Sieg spielen.

Herr Busch, Sie sind Franke wie Ludwig Erhard, aufgewachsen in Erlangen. Was waren für Sie die Ereignisse in der Geschichte der Bundesrepublik, die Sie geprägt haben?

Busch: Es gibt verschiedene Meilensteine, die im Rückblick für mich von großer Bedeutung waren. Da ist die Debatte um die Gastarbeiter, die mich während meiner Schulzeit weniger beschäftigt hat, bei der sich mir erst im Nachhinein die immense Bedeutung für den Erfolg der Bundesrepublik erschlossen hat. Dann natürlich der Mauerfall, der einem allein durch die Tatsache, dass das Grundgesetz eben keine Verfassung war, bewusst gemacht hat, wie viele Jahre wir mit der Hoffnung auf eine Wiedervereinigung gelebt haben. Und natürlich das Ringen um die Europäische Integration, hinter deren Idee ich stehe und deren Vision ich teile. Allerdings bin ich auch der Meinung, dass wir die Europäische Integration vollenden müssen. Wir sind nicht den kompletten Weg gegangen, um wirklich eine Europäische Union zu sein. Gute Freunde haben mich einmal gefragt, wo ich leben wollte, wo ich die Nadel in die Weltkarte stecken würde – es wäre Deutschland, und es wäre wahrscheinlich sogar Mittelfranken.

Wir haben das Gespräch angefangen mit dem Motto für 75 Jahre Grundgesetz. Was würden Sie sich als Leitspruch für den 100. Geburtstag wünschen?

Busch: Wirtschaftswunder 2.0.

Källenius: Ja genau. Das Grundgesetz bleibt unser Fundament, damit das Wirtschaftswunder 2.0 funktionieren wird. Deutschlands Motor bleibt das Streben nach Exzellenz und Freiheit.