Siegfried Unseld und die NSDAP: Die Nacht ist ohne Ende
Nun hat es also Siegfried Unseld erwischt: Auch er wurde als Mitglied der NSDAP enttarnt, 1942, als 17-Jähriger. Nicht nur Walter Jens, Martin Walser, Peter Wapnewski, Walter Höllerer … die Liste bundesrepublikanischer Prominenz ist lang, und alle waren sie meine Freunde, wie Günter Grass, der bei der Waffen-SS war. Auch der Verleger des Suhrkamp Verlags, der so etwas wie den Olymp der geistigen Bundesrepublik repräsentierte und das „Nie wieder!“ des deutschen Sündenfalls verkörperte, ist also Nationalsozialist gewesen. Ein paar Monate nachdem wir in Berlin seinen 100. Geburtstag gefeiert hatten, war dem Historiker Thomas Gruber, der im Bundesarchiv eigentlich den Documenta-Gründer Werner Haftmann recherchierte, Unselds Corpus Delicti zufällig in die Hände gefallen. Noch das Not-Abitur im Realgymnasium Ulm, dann Einrücken, an die Ostfront, mit Gewehr und Parteibuch. Gruber dreht ihm keinen Strick daraus, es fällt ihm nicht ein, Unselds Lebenswerk hinterher infrage zu stellen. Nur schweigen hätte er nicht dürfen, und der letzte Satz in Grubers Artikel lautet sogar, dass Unselds „Biografie an einem zentralen Punkt neu geschrieben werden muss“. Im April 2025, 23 Jahre nach dem Tod des Verlegers, kam die Wahrheit heraus. „April is the cruellest month“ (T. S. Eliot).
Da hatte ich, Jahrgang 1934, mehr Glück. Ich bin Schweizer, und niemand hat herausgefunden, dass ich als 12-Jähriger nach dem Zweiten Weltkrieg einem „Frauenmörder-Club“ vorgestanden habe, weil das Atelier meines Halbbruders Hans, des hoffnungsvollen Bildhauers, inzwischen als Ablage für ausgediente Frauenkleider und -schuhe diente, die uns – eine kleine, ausgewählte Schar Pubertierender – zu einer Verschwörung inspirierten. Bald darauf waren wir dann doch lieber Jünger des Räubers Orbasan, den wir aus Hauffs Erzählungen kannten: des heimlichen Weißen unter arabischen Teufelskerlen. Später beschäftigten wir uns vor allem mit der Erfindung einer todsicheren Geheimschrift. Mit Hitler hatten wir nichts am Hut. Mein Banknachbar in der Primarschule war der Sohn eines Mannes, der angeblich zum Gauleiter der Schweiz vorgesehen war. Damit drohte uns Manfred auch gern. Aber gegen Kriegsende fürchtete ich mich nicht, im Lied Die Nacht ist ohne Ende statt „Wann fällt der Kummer nieder?“ ganz laut „Wänn wierd de Hitler gschider?“ (gescheiter) zu singen, und Manfred warnte mich mit dem Zeigefinger. Nach Kriegsende wurde seine Familie des Landes verwiesen. Unser Heldentod, den die damalige Landeshymne versprach, fiel aus: „Stehn wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich, froh noch im Todesstreich, Schmerz uns ein Spott!“ Wir sangen sie nach dem Weltkrieg trotzdem weiter, Tränen in den Augen, angesichts des Feuers am 1. August. Bald wurde der Gesang dünner, da sich viele Mitbürger wieder Sommerurlaub leisten konnten, aber unsere Opferbereitschaft bekam bald wieder einen neuen Feind: die Russen.
Wahr ist auch: Die Feuilletons deutscher Sprache hätten größere Sorgen und die wiedervereinigte Bundesrepublik Dringenderes zu tun, als sich mit einem Fehltritt von Geistesgrößen zu befassen, der – in Unselds Fall – 83 Jahre zurückliegt. Das Exemplarische daran in Ehren – aber seine Last muss die deutsche Gesellschaft tragen und ertragen. Dass diese Last für Unseld keine Bagatelle war, mag er durch kein Geständnis belegt haben, aber er hat seinen Umgang mit ihr als Verleger bei der Auswahl seiner Autorinnen und Autoren bewiesen; jene „Suhrkamp-Kultur“, welche die Barbarei des „Dritten Reiches“ mit moderner Weltliteratur austrieb und der mörderischen Provinz politisch wie kosmopolitisch entgegentrat, ohne den Lesern das Salz der Selbstkritik zu ersparen. Juden sprachen wieder, in dieser „Frankfurter Schule“, auch besseres Deutsch als ihre Verächter und Vernichter, und dass der Suhrkamp Verlag den Namen seines Gründers behielt (ohne das in der Nazizeit obligatorische „vorm. S. Fischer“), war eine Reverenz des Nachfolgers Unseld an einen Mann, der Gesundheit und Leben dafür gegeben hatte, dass die Bücher seiner Autoren im „Dritten Reich“ überhaupt erscheinen konnten: etwa diejenigen Hermann Hesses, eines erklärten Pazifisten, dessen Werk sogar für deutsche Soldaten an der Front erreichbar blieb. Unseld brauchte sich nicht als gewesenen Nazi zu outen, wenn er Bücher verlegte, die ein kritisches Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte nicht nur verlangten, sondern begründeten, und nicht nur durch ihre Dialektik imponierten, sondern durch Sprache und Stil. Die Bundesrepublik ist ohne den Einfluss dieser Kraft nicht denkbar und ihre Wirkung nicht ohne diesen Verleger – der bis zu seinem Tod 2002 auch der meine war.
Dass er seiner selbst nicht so sicher war, wie er auftrat, gehört zu den Glücksfällen des Verlags – denn im Zweifel blieb Unseld generös. Über Differenzen brauchte man nicht mit ihm zu handeln; zu groß war sein Respekt vor der anderen Nuance. Er war – vielleicht seinem Selbstbild entgegen – liebenswürdig. Vor dem Hintergrund seiner Jugend in einem nazifreundlichen Elternhaus darf man etwa in seinem Engagement für die jüdische Kultur – getrieben und inspiriert von seiner zweiten Frau Ulla – auch einen Hauch von Komik bemerken, ohne ihm zu nahezutreten. In seinen letzten Jahren war die stillschweigende Melancholie unübersehbar – gepflegt hat er sie nie. Es war eher eine kindliche Seite, die zum Vorschein kam, und sie war traurig. Es war ihm bewusst, dass es die Welt, die seinen Verlag nötig hatte, um sich selbst zu verstehen, nicht mehr lange geben würde.
Kürzlich hatte ich eine Lesung an der Ostsee, im Hotel Genueser Schiff, dessen Name einem Gedicht Nietzsches entliehen ist. Im Publikum saß auch ein guter Bekannter, Jan Kollwitz, der Urenkel der bekannten Künstlerin, deren schwebendes Ebenbild als Engel von der Hand Barlachs wir in der Kirche Güstrows gesehen hatten. Meine Frau interessiert sich für die Töpfereien Jans, deren Machart er sich in Japan angeeignet hat. Er fuhr uns ein paar Kilometer weiter in sein Atelier, wo wir gute Stunden verbrachten, bevor uns ein Taxi mit zwei seiner Schalen im Gepäck zum Flughafen nach Hamburg weiterbrachte.
Mein Selbstgespräch im Flugzeug lautete ungefähr so:
„Barlach war auch ein Dichter, und du hast über ihn geschrieben.
Meine Dissertation.
Dann ist er auch bei Suhrkamp?
Leider nein, ich hatte ihn auch nur geliehen. Eigentlich gehörte Barlach zur Welt meines Halbbruders Walter.
Des Professors in Basel. Das geht auch. Hauptsache, brüderlich.“
Ich dachte lieber nicht daran, dass Barlachs Enkel Hans, ein Hamburger Geschäftemacher, den nach Unselds Tod in Berlin angesiedelten Suhrkamp Verlag zu kapern versucht hatte und ihn hätte zerstören können, wenn sein Tod den angezettelten Rechtsstreit nicht beendet hätte. Auch ein Stück Suhrkamp-Geschichte, öffentlich debattiert, aber nicht lange.
Vielleicht reagiert man auf den Fund im Bundesarchiv am besten, indem man Interessenten ein Suhrkamp-Buch schenkt, zum Beispiel von Max Frisch. Dann hätten sie die Antwort, die Unseld angeblich schuldig blieb, in der Hand: als größere Frage an sie selbst.
Eine Geschichte aus den Kriegsjahren hat Siegfried ja doch erzählt: wie er sich auf der Krim vor den Russen nur noch ins Schwarze Meer retten konnte und im eiskalten Wasser stundenlang schwamm und schwamm bis zum Gehtnichtmehr und wie er dann doch noch von einem deutschen Schiff aufgenommen wurde.
Seit ich das wusste, betrachtete ich, als Gast bei ihm zu Hause in der Frankfurter Klettenbergstraße, seinen weißen Bademantel für die allmorgendlichen Schwimmtermine mit leiser Erschütterung.