Sie versteht den Kampf welcher Geschlechter
Eine Unterhaltung mit Alice Evans macht mindestens eine Erdumrundung. Thematisch geht es in Windeseile von Gambia nach Kambodscha, von Alabama nach Südkorea. Gerade ist sie aus Costa Rica zurückgeflogen, wo sie mit jungen Frauen über deren Tiktok-Konsum gesprochen hat. Die Frauen dort, erzählt sie, schauen überwiegend keine lateinamerikanischen Videos, sondern solche aus den Vereinigten Staaten. Das sei ein gutes Beispiel für „kulturelles Leapfrogging“, also das Überspringen von Entwicklungsschritten. Die Costa Ricanerinnen werden durch progressive Ideen aus den USA geprägt und verändern so ihr Geschlechterbild schneller, als es ohne externe Einflüsse möglich wäre.
Evans kommt viel rum in ihrem Versuch zu erklären, warum die Gleichstellung von Männern und Frauen in manchen Ländern weiter ist als in anderen. Warum sie mal schneller, mal langsamer voranschreitet – und manchmal einen Schritt zurück macht. Evans lehrt Sozialwissenschaften am King’s College in London. In Kambodscha hat sie untersucht, wie Städte zur Gleichstellung beitragen, in Sambia, warum Männer immer noch so wenig Care-Arbeit übernehmen, in Gambia, wie junge Menschen sexuelle Beziehungen für wirtschaftliche Vorteile nutzen. Sie schreibt an einem Buch über die Entwicklung der Geschlechtergleichheit und informiert in einem lesenswerten Newsletter über neue Forschung aus diesem Feld. Wer verstehen will, warum junge Männer AfD und junge Frauen die Linke wählen, warum Frauen in Deutschland im Durchschnitt immer noch 16 Prozent weniger Geld verdienen als Männer und öfter für die Kinderbetreuung beruflich zurückstecken, der muss mit ihr reden.
Denn die Geschichte der Ungleichbehandlung von Mann und Frau ist kompliziert. In Deutschland werden Frauen mindestens so oft befördert wie Männer – wenn sie denn Vollzeit arbeiten und sich auch tatsächlich auf Führungspositionen bewerben. Sie tun es nur nicht. Frauen verdienen auch als Berufsanfänger nicht viel weniger Geld als ihre männlichen Kollegen – bis sie Kinder bekommen, dann geht die Schere auseinander. Frauen schultern nach wie vor den Großteil der Kinderbetreuung. Und auch nachdem die Kinder aus dem Haus sind, bleiben viele von ihnen in der Teilzeit.
Zentrale Rolle der neuen Technologien
Selbst Schuld also? Ist das alles die freie Entscheidung selbstbestimmter Paare, die sich Lohn- und Sorgearbeit nach eigenem Gutdünken aufteilen? So einfach ist es dann eben auch nicht. Im europäischen Vergleich hatte Deutschland 2022 die drittgrößte Lohnlücke zwischen Männern und Frauen, fünf Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt. In Schweden sind in der Wirtschaft 42 Prozent der Führungskräfte weiblich, in Deutschland 26,5 Prozent. In Frankreich arbeitet ein Viertel der erwerbstätigen Frauen Teilzeit, in Deutschland die Hälfte.
Politische Anreize wie das Ehegattensplitting können dabei relevant sein, sagt Evans. Aber selbst innerhalb Deutschlands gibt es große Unterschiede zwischen Ost und West. Die ehemals sozialistischen Teile des Landes haben von jeher höhere Frauenerwerbsquoten als der Westen. Ohne Kultur lässt sich all das nicht erklären. Hier setzt Evans’ Forschung an.
Eine zentrale Rolle bei der Disruption dieser Kultur kommt der Sozialwissenschaftlerin zufolge neuen Technologien und Medien zu. Denn das Verhalten von Männern und Frauen spielt sich nicht im Vakuum ab. „Vor 200 Jahren wurden wir von unserem Dorf beurteilt. Jeder ging zur selben Kirche. Technologie kann da sehr disruptiv sein. Dass Menschen fernsehen oder Radio hören konnten, war eine sehr wichtige Sache. Medien sagen uns, was erlaubt oder prestigeträchtig ist, was respektiert wird.“ In den Siebzigerjahren trugen etwa Frauenzeitschriften in den USA feministische Ideen in den Mainstream, die von der „New York Times“ damals noch verspottet wurden. Und umgekehrt hätten im progressiven Skandinavien die sozialdemokratischen Regierungen auch deshalb eine größere Gleichstellung der Geschlechter etablieren können, sagt Evans, weil es erst ab Ende der Achtzigerjahre kommerzielles Fernsehen gab. „Kulturelle Indoktrination“ nennt Evans das.
Stammesdenken ist tief verankert
Und in Deutschland? Als sie die kulturelle Prägung der Gesellschaft hierzulande beschreibt, verwendet Evans zweimal Begriffe auf deutsch, die bezeichnend sind: die „Rabenmutter“, die ihre Kinder im Stich lässt; und den traditionellen Dreiklang „Kinder, Küche, Kirche“. In der deutschen Nachkriegsgesellschaft seien progressive Rollenbilder auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs aus unterschiedlichen Gründen zurückgehalten worden, sagt sie. Die DDR habe zwar die Erwerbsbeteiligung von Frauen stark eingefordert, was sich, wie in allen ehemals kommunistischen Staaten, bis heute auf Lohnlücke und Vollzeitquote im Osten auswirkt. Gleichzeitig habe die DDR aber jede Form von politischem Dissens, auch Feminismus, blockiert. „In Westdeutschland waren es wiederum Kirche und Konservatismus, die als Bollwerk gegen den Osten verstanden wurden.“ So sei im Kalten Krieg die Unterdrückung von Feminismus zum Teil des Kampfs der Ideologien geworden, so Evans.
Menschen „waren schon immer sehr stammesorientiert“, sagt Evans, und sie seien es bis heute. „In vielen Aspekten des Lebens streben die Menschen im Grunde nach Status und sozialer Eingliederung, indem sie genau darauf achten, was ihre Mitmenschen denken und was erfolgreiche Menschen in ihrem Stamm denken.“ Das führt etwa dazu, dass Frauen im vorauseilenden Gehorsam freiwillig die Kinderbetreuung übernehmen, in dem Wissen, dass ihr Umfeld es so erwartet. Evans vergleicht das mit dem Panoptikum des Philosophen Jeremy Bentham, in dem Gefangene nie wissen, ob sie gerade beobachtet werden, und gerade deshalb parieren. „Aber die Technologie verändert, welchem Stamm wir angehören wollen und welche Ideen wir bekommen“, sagt Evans.
Ein Begriff, der in Evans’ Analysen immer wieder fällt, ist der des Status. Männer beziehen im traditionellen Rollenbild ihren Status aus der Rolle als Hauptverdiener und Oberhaupt des Haushalts. Aber auch Frauen „wollen an Status gewinnen und wechseln deshalb in Gemeinschaften, in denen der Status der Frau anerkannt und die Gleichberechtigung gefördert wird“. Möglich macht das gerade in konservativen Gesellschaften das Internet. „Es gab in den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts einen starken Anstieg progressiver Kampagnen“, sagt Evans. „Frauen kamen mehr in die Arbeitswelt, machten Karriere. Sie organisierten sich in Universitäten und sie benutzten die neuesten Technologien, um fortschrittliche Ideen zu verbreiten. Und weil alles miteinander verbunden ist, verbreiten sich diese Ideen global.“ Auch in der progressiven Blase unterliegen Menschen einem Stammesdenken. Sie vergleichen sich nur jetzt mit denen, die ein egalitäres Partnerschaftsbild vorleben, und imitieren es.
Frauen wählen links, Männer rechts
Dabei kommt die Technologie nicht immer der fortschrittlichen Seite zugute. Wenn Evans, deren Lebenslauf sie an Spitzenunis wie Harvard, Yale, Stanford und Cambridge geführt hat, von ihren eigenen Erfahrungen mit Geschlechterdynamiken erzählt, fängt die Geschichte in Sevenoaks an, in der englischen Grafschaft Kent. Dort ist sie aufgewachsen. „Wir hatten eine ungeheizte Garage“, erzählt sie. „Am Freitag habe ich zu meinen Freunden gesagt: Kommt vorbei. Dann haben wir weiße Plastikstühle aufgestellt. Sehr schick war das nicht.“ Dort seien Jungen und Mädchen aufeinander getroffen, hätten Verständnis für die Sorgen und Probleme anderer entwickelt. Das wurde zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung. „Es gab einfach keine bessere Unterhaltung als meine Garage.“ Wenn junge Männer stattdessen heute lieber „Call of Duty“ spielen, in individualisierten Tiktok-Feeds Videos schauen und insgesamt mehr Zeit allein verbringen, sei ein solcher Austausch weniger möglich.
Es ist ein Phänomen, das hilft zu verstehen, warum Männer und Frauen heute so unterschiedliche politische Parteien wählen. Frauen sind im Durchschnitt in vielen westlichen Gesellschaften politisch nach links gerückt, Männer stehen weiter rechts, so auch bei der Bundestagswahl vor einer Woche: Die Linke war bei den Frauen unter 24 mit 35 Prozent stärkste Partei, die AfD bei Männern im gleichen Alter mit 29 Prozent. Früher hätten engmaschige, religiös geprägte Netzwerke auf dem Land und ein regelmäßiger Austausch zwischen Männern und Frauen dafür gesorgt, dass beide Geschlechter ähnlichere Werte hatten, vermutet Evans. Heute zögen sich beide Geschlechter in unterschiedliche Echokammern zurück, die ihnen jeweils einen höheren Status einräumen – auch die Männer, die sich von rechten Podcastern und Influencern gehört fühlen.
Evans warnt davor, dass eine zu schnell voranschreitende Liberalisierung zu einer Gegenbewegung führen kann. In den Sechzigerjahren konnte man im säkularisierten Ägypten unter Gamal Abdel Nasser Studentinnen im Minirock antreffen, eine Provokation, die die salafistische Bewegung im Land befeuerte. Als US-Bundesstaaten in den Siebzigerjahren einen Verfassungszusatz für Gleichberechtigung verabschiedeten, stimmten die Männer in diesen Staaten anschließend häufiger Aussagen zu wie „Der Platz einer Frau ist im Haushalt“. Und heute nutzen rechte Influencer wie Andrew Tate oder der deutsche AfD-Politiker Maximilian Krah die Angst junger Männer vor dem eigenen Statusverlust aus, um ihr Weltbild zu propagieren. „Echte Männer sind rechts“, sagt Krah in einem weitverbreiteten Video. „Dann klappt’s auch mit der Freundin.“ Das ist die Ironie an der Sache. Wo einst die Monokultur von Kirche und Dorfgemeinschaft die Gleichstellung ausbremste, ist es heute der Verlust ebendieser Monokultur, die sie unter Druck bringt.
Gefährliche Polarisierung
Die Gegenbewegung zur Gleichstellung verfängt auch in vermeintlich progressiven Ländern. Ein Viertel der 15 bis 18 Jahre alten Jungen in Norwegen stimmen der Aussage zu, dass die Gleichstellung zu weit gegangen sei. Zwischen 1985 und 2021 waren es nie mehr als halb so viele gewesen. Es ist die Kehrseite der disruptiven Wirkung neuer Technologien. So wie sie ein progressiveres Weltbild transportieren können, haben sie auch das Potential, einen gesellschaftlichen Konsens der Gleichstellung zu unterminieren. Ganz unbegründet sind die Abstiegsängste der jungen Männer dabei nicht. Mädchen schneiden heute in der Schule oft besser ab, studieren öfter. Die zunehmende Deindustrialisierung bringt zudem vorwiegend traditionell männliche Jobs in Gefahr. Evans glaubt nicht, dass die norwegischen Jungs deshalb ein frauenfeindliches Weltbild haben. Sie würden nur in ihrem Alltag ständig wahrnehmen, dass Frauen gefördert würden, während sie selbst zurückfallen. Solche Sorgen dürfe man nicht vernachlässigen, sonst drohe der „backlash“, glaubt Evans.
Alice Evans ist keineswegs eine Wissenschaftlerin, die einer progressiven Blase nach dem Mund redet. Sie warnt, dass nicht nur der wachsende Rechtsdrall der Männer zum Problem für die Empathie zwischen den Geschlechtern werden könnte, sondern auch der Linksdrall der Frauen. Und sie sieht eine Herausforderung darin, Einwanderer aus Ländern mit traditionelleren Rollenbildern zu integrieren. Auch hier spielt die Technologie eine Rolle. „Als Migrant schaue ich nicht zwingend deutsches Fernsehen, sondern vielleicht arabische Predigten auf Tiktok. Kulturelle Integration ist viel schwerer im Zeitalter des Smartphones.“ Auf Tiktok kursiere zum Beispiel der abwertende arabische Begriff des „Dayooth“, eines Mannes, der „keine beschützende Eifersucht gegenüber seiner Frau empfindet“. Wenn Männer ihren Status aus der Abschottung ihrer Frauen beziehen, sagt Evans, erschwere das die Gleichstellung.
Generell verschärft sich der Widerstand gegen die Gleichstellung, wenn Männer und Frauen weniger miteinander reden. Evans verweist auf eine Studie, die zeigt, dass Menschen in traditionelleren Gesellschaften viel weniger Facebook-Freunde des anderen Geschlechts haben. Selbst hier kann man die Nachwirkungen der deutschen Teilung sehen, denn im Osten sind geschlechterübergreifende Freundschaften auch heute noch üblicher. Die Kommunikation wird erschwert durch die politische Polarisierung. Wenn der ideologische Graben zwischen jungen Frauen und Männern größer wird, haben sie sich weniger zu sagen. Es ist ein Teufelskreis.
Miley Cyrus’ Hymne auf das Single-Sein
Hinzu kommt, dass immer weniger junge Menschen in festen Beziehungen sind, insbesondere Männer in Schichten mit niedrigen Einkommen und niedrigem Bildungsgrad. Frauen seien weniger auf Männer angewiesen, sagt Evans. „2023 war der meistgestreamte Song auf Spotify ‚I can buy myself flowers‘ von Miley Cyrus. Dieses Lied feiert das Single-Sein. Das Stigma des Alleinseins geht zurück. Sie müssen nicht mehr heiraten, um Respekt zu erringen.“ Aber eine Beziehung sei ein extrem wichtiger Ort zum Austausch von Ideen, um Empathie mit anderen Perspektiven zu empfinden, sagt Evans. Heterosexuelle Männer nähmen dadurch Frauen vorwiegend als Konkurrenz um knappe Arbeitsplätze – und um Status – war.
Es gibt Forschung, die zeigt, dass Männer die Welt häufiger als Frauen als Nullsummenspiel wahrnehmen. Jeder Zugewinn der Frauen an Macht und Status ist ein Verlust für sie. „Wenn es im Leben eines Mannes keine Frauen gibt, die ihm wichtig sind, dann versteht er nicht die Barrieren und die Anstrengungen, die Frauen durchmachen“, sagt Evans. Die Gelegenheiten für geschlechtsübergreifende Empathie werden seltener – und es wird immer schwerer, gegenzusteuern, „weil jeder am Handy hängt“. Eine Indoktrination wie zu Zeiten des Kalten Krieges sei nicht mehr möglich – weil man die Leute schlicht nicht erreichen würde.
Helfen wird am Ende wohl am ehesten, wenn Männer und Frauen viel mehr einander ausgesetzt würden. Evans kommt öfters auf ihre Garage zurück. Manchmal dauert der Effekt aber auch eine Generation. In den USA machten die Töchter von Männern, die selbst mit Frauen zusammenarbeiteten, später öfter Karriere. Die Vorstellung, dass Frauen genauso viel können, mussten die Väter erst selbst erleben. Ihr Statusdenken veränderte sich, wovon die Töchter profitierten.