Serie „Pluribus“: Die Invasion welcher Gutmenschen
Vince Gilligan ist, spätestens seit „Breaking Bad“, nach so gut wie allen Maßstäben seiner Kunst einer der bedeutendsten Serienmacher der Gegenwart – und irgendwann muss ihm seine Position vorgekommen sein wie Carol Sturka, der Heldin seiner neuen Serie „Pluribus“, jene veränderte Welt, in die sie von einem Moment auf den anderen hineingerät: Die Menschen um sie herum sind alle unfassbar freundlich zu ihr, ihr einziges Ziel scheint zu sein, sie glücklich zu machen, jeden Wunsch lesen sie ihr von den Augen ab. Wenn man dem Reporter der „New York Times“ glaubt, der von den Dreharbeiten zu „Pluribus“ berichtet, waren so ähnlich auch die Produktionsbedingungen für Gilligan: Eine halbe Wohnsiedlung durfte er am Stadtrand von Albuquerque bauen, mitsamt Sackgasse und Wendehammer, und wenn er irgendetwas brauchte, einen Hubschrauber vielleicht oder ein repräsentatives Militärflugzeug, dann war die Antwort meistens: „Kein Problem. Wird erledigt.“
Carols Mitmenschen machen noch ganz andere Dinge möglich. Welche im Einzelnen, das verbietet Apples sehr dezidierte Spoilerliste zu verraten, genauso wie den Grund für die plötzliche Verwandlung der gesamten Weltbevölkerung in gehirngewaschene Gutmenschen. Der spielt letztlich aber keine Rolle, denn natürlich ist die Backstory dieser Geschichte nur die Anleihe beim Science-Fiction-Genre für die Lizenz, das abwegige Setting plausibel zu machen: eine Art „Invasion of the Body Snatchers“, nur durch dauergrinsende Zombies. Was wäre die Bilanz, so die moralphilosophische Frage, die Gilligan hier durchspielt, wenn auf der Welt endlich Friede, Freude, Eierkuchen herrschte, aber um den Preis der Individualität? Ist die Freiheit, unglücklich zu sein, es wert, für sie zu kämpfen? Und wenn alle gleich sind und alle Lebewesen grenzenlos respektieren, wer backt dann den Eierkuchen – und woraus?
Alleine für die schlechte Sache
Was man ausdrücklich schreiben darf, ist, „dass sich die Welt auf signifikante Weise verändert hat“; und „dass Carol um die halbe Erde reist, um Antworten zu finden, was um sie herum passiert“. Man verrät auch nicht zu viel, wenn man sagt, dass sie das erst mal auch nicht glücklich macht: Carol ist offenbar immun gegen die virale Nächstenliebe und hat auch keinerlei Interesse daran, Teil der totalen Happiness zu werden. Was wiederum ihre pazifistischen Mitmenschen auch nicht erzwingen können oder wollen.
So verzweifelt sie ordentlich daran, dass sie zwar alles haben kann, außer eben, dass die Welt wieder so deprimierend und rücksichtslos ist, wie sie sie kennt. Und weil Carol von Rhea Seehorn gespielt wird, schaut man ihr auch sehr gern dabei zu. Nach ihrer großen Nebenrolle als Anwältin Kim Drexler in „Better Call Saul“ darf Seehorn nicht nur endlich eine Hauptrolle in einer Serie spielen, sie ist im Prinzip die ganze Show: In den meisten Folgen ist sie ist in fast jeder Einstellung zu sehen, wunderbar changierend zwischen Wut, Sturheit, Griesgrämigkeit und Einsamkeit. Dass sie die wenigen anderen Individuen, die auch nicht vom schrecklich netten Gruppendenken angesteckt wurden, nicht davon überzeugen kann, mit ihr gemeinsam für die schlechte alte Zeit zu kämpfen, hilft auch nicht unbedingt gegen ihre notorisch üble Laune.
Wenn alle reden wie ChatGPT
Der Überzeugung, dass diese aber unbedingt zu verteidigen wäre, schließt man sich als Zuschauer nicht nur wegen der Sympathie für die Hauptfigur an. Im Zeitalter der sogenannten Künstlichen Intelligenz ist Carol die perfekte Rebellin im Dienst menschlicher Imperfektion. Und obwohl Gilligan, wie er in einem Interview mit dem „Time“-Magazin sagte, beim Schreiben noch nicht die heute populären Sprachmodelle im Sinn hatte, erinnert die unverwüstbare Höflichkeit des Kollektivs doch frappierend an die anbiedernde Sprache, die Bots wie ChatGPT antrainiert wurde und die auf Dauer richtig aggressiv macht.
So interessant aber Gilligans Versuchsaufbau ist, so durchschaubar wirkt er manchmal. Nach den sieben Folgen, die Apple Kritikern vorab zur Verfügung gestellt hat, ist nicht ganz einfach, einzuschätzen, wie lange er trägt. Sicher ist nur, dass Carol so schnell wohl kein Gegenmittel finden wird: Die erste Staffel hat neun Folgen, eine zweite ist schon bestellt. Was sich andeutet, ist, dass die herrschende Harmonie auf Bedingungen beruht, die sie am Ende vielleicht doch nicht ganz so harmlos machen. Für Carol kann man sich nur wünschen, dass sie nicht einfach zur Inversion von Gilligans berühmtester Figur Walter White wird, dem braven Chemielehrer, der zum rücksichtslosen Drogendealer wird. Wenn am Ende das Gute gewinnt: Das wäre richtig schlimm.
Source: faz.net