Serbien | Serbiens Präsident Aleksandar Vučić schaukelt zwischen Moskau und Moldau hin und zurück
Ein russophiler EU-Beitrittsaspirant wie Serbien hat es in diesen Zeiten schwer. Das Prorussische darf nicht zu antieuropäisch klingen
Wie es um Serbiens EU-Chancen bestellt ist, kann stets dem Verhältnis Vučić/Putin entnommen werden
Foto: Imago Images
Am 22. September, sechs Tage vor der moldauischen Parlamentswahl, holten die Behörden dort zu 250 Razzien aus, fanden große Mengen von Bargeld und Waffen und nahmen 74 Moldauer fest, die – so die regierungsamtliche Version – auf russisches Geheiß gewalttägige Unruhen rund um die Wahl lostreten sollten. In einem vom moldauischen Geheimdienst SIS veröffentlichten Video gestanden zwei Russisch sprechende Beschuldigte, sie hätten 300 Dollar und – zusammen mit anderen jungen Männern aus der Hauptstadt Kischinau und der russophilen Autonomieregion Gagausien – eine paramilitärische Ausbildung in Serbien erhalten. Angedeutet wurde, dass die 150 bis 170 prorussischen Moldauer „zwischen dem 16. Juli und 12. September“ von Russen und Belarussen aus dem Umfeld der aufgelösten Söldnerfirma Wagner trainiert worden seien.
Elf Personen verhaftet
Glaubwürdigkeit erhielt das Vorgehen der nicht frei von der proeuropäischen Regierung Moldaus handelnden Behörden dadurch, dass die nicht frei von der prorussischen Regierung in Belgrad agierende Polizei in Serbien am gleichen Tag zwei serbische Organisatoren jener mutmaßlichen Paramilitärs festnahm.
Kurz darauf, am 29. September, wurden in Serbien elf Personen verhaftet, die im Auftrag eines namentlich nicht genannten ausländischen Geheimdienstes mit antimuslimischen und antisemitischen Provokationen an einer Destabilisierung Frankreichs gearbeitet haben sollen. Dies sei durch das Ablegen von gut einem Dutzend Schweineköpfen vor Pariser Moscheen geschehen. Nimmt man noch in den Blick, dass der russische Geheimdienst SVR den militärisch neutralen Serben seit Mai vorwirft, sie würden die Ukraine verdeckt über NATO-Staaten und Afrika mit großen Mengen Munition beliefern, so verdichtet sich der Eindruck, dass der traditionell russophile EU-Beitrittskandidat Serbien gegen Moskau Position bezieht.
Die Menschen in Serbien selbst können freilich einen ganz anderen Eindruck gewinnen. Die proeuropäische Oppositionspresse berichtet auffällig unaufgeregt, um der Versuchung zu entgehen, Präsident Aleksandar Vučić loben zu müssen. Stattdessen wird behauptet, der verhaftete Camp-Organisator Lazar Popović sei vor Jahren Berater eines Ministers ohne Portefeuille gewesen – des biografisch eng mit Moskau und der Krim-Annexion verbundenen Multimillionärs Nenad Popović. Die zahlreichen Propaganda-Medien des begnadeten Schaukelpolitikers Vučić verlieren dagegen kein Wort mehr über die Moldauer-Schießübungen und Schweineköpfe.
Schlagzeilen über gewalttätige, von ausländischen Geheimdiensten unterstützte Unruhen gibt es zwar täglich, sie nehmen aber allein die studentische Protestszene gegen Vučić und die proeuropäische georgische Opposition ins Visier. Die nicht völlig von der Hand zu weisende Aussage Wladimir Putins, der Westen würde in Serbien eine „farbige Revolution“ (s. Seite 11) unterstützen, wird in den Vučić-Medien hochgehalten wie eine Trophäe. Vučić vergisst selten, sein dem Russischen herzlich verbundenes Elektorat mit Symbolen zu füttern: Er zeigte sich in Moskau am 9. Mai bei der Parade zum 80. Jahrestag des Kriegsendes, er sichert Serbien über Kurzzeitverträge billiges russisches Gas und bezeichnet Russland wenn schon nicht als „Verbündeten“, so doch als „Freund“.
Die 150 bis 170 prorussischen Moldauer waren mit Vollpension in einer westserbischen Hotelanlage untergebracht. Zu meiner freudigen Überraschung finde ich „Etno Selo Sunčana Reka“ auf booking.com und buche eine Nacht. Dank der nagelneuen Straße Šabac-Loznica ist man schnell dort, auch die beiden in Šabac festgenommenen Camp-Organisatoren dürften auf dieser Piste unterwegs gewesen sein.
Vaterunser auf Serbisch
„Sunčana Reka“, der sonnige Fluss, ist komprimierte nationalserbische Seligkeit. Die Anlage liegt am ikonischen Grenzfluss Drina, greift mit einer Bade-Halbinsel und einer an drei Bäumen hinausgehängten Holzterrasse in die hier besonders türkis schimmernde Drina aus. Das Auge erfreut sich an Holzhütten, das Ohr erquickt die vom Kellner in der altserbischen Gaststube geträllerte Volksweise. Eine eigene orthodoxe Kirche wird von einem Popen betreut, der auf der Weide hinter der Kirche wohnt und in einem weiteren Holzhäuschen – „nach der letzten Liturgie des Tages“ – Kaffee mit den Gläubigen trinkt.
Eine Alte, die mit ihrem Raucherhusten Charleston tanzt, fungiert ganztägig als Küsterin, Glockenläuterin und Verkäuferin von Souvenirs. Das Personal von „Sunčana Reka“ hat im Sommer zwar nicht geahnt, was die Moldauer irgendwo bei einem verlassenen Gebäude in der Umgebung trieben, denkt aber gern an die Gäste aus dem fremden Land zurück. Wenn die Küsterin von den Moldauern spricht, ist ihr Raucherhusten wie weg. Diese Leute seien immer fröhlich gewesen, erzählt sie, „gingen selbst bei Regen baden, nahmen dabei nie ihre Kreuze ab und kauften Souvenirs in allen Größen“. Darunter sei ein Fingerring aus Stahl gewesen, in welchen der komplette Text des Vaterunser auf Serbisch eingraviert war. „Manche kauften gleich drei Ringe. Einen für sich, einen für die Mama und einen für die Frau.“
Auch ein höhergestellter Mitarbeiter des Hotels lässt nichts auf die Russisch sprechenden Gäste kommen: Sie seien pünktlich zu Frühstück, Mittagessen und Abendessen erschienen. „Sie aßen und tranken, aber keinen Alkohol, sondern nur Kaffee.“ Sie hätten sich, „auch wenn sie unsere Musik nicht kennen“, vorbildlich benommen. „Die Zeitungen erfinden alle etwas dazu“, kritisiert er mehrfach. „Ich habe mir das alles durchgelesen. Aber mir ist immer noch nicht klar, ob dieses Camp nun proeuropäisch oder prorussisch war.“
Serie Europa Transit Regelmäßig berichtet Martin Leidenfrost über nahe und fernab gelegene Orte in Europa