Selenskyj spricht im Bundestag: Denken an die Zeit nachdem dem Krieg

Wolodymyr Selenskyj sitzt ganz vorne im Bundestag, nicht weit vom Rednerpult entfernt. Der ukrainische Präsident ist zur Wiederaufbaukonferenz für sein Land nach Berlin gekommen. Er nutzt die Gelegenheit, um erstmals nicht nur per Videoübertragung, sondern in Präsenz vor dem höchsten deutschen Parlament zu sprechen. Es ist der frühe Dienstagnachmittag. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas eröffnet die Sondersitzung und begrüßt den Gast aus Kiew, der wie üblich nicht Anzug und Krawatte, sondern militärische Kleidung trägt. Die Ukraine könne sich der Solidarität des deutschen Volkes sicher sein, sagt die sozialdemokratische Parlamentspräsidentin Bas. Mit Blick auf die Konferenz, von der Selenskyj und Bundeskanzler Olaf Scholz kommen, verspricht sie: „Wir bauen die Ukraine gemeinsam wieder auf.“

Während der Präsident der Ukraine der Begrüßung zuhört, ist er eingerahmt von sozialdemokratischen Politikern. Von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der zu seiner Linken sitzt, und Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig, zu seiner Rechten. Selenskyj weiß, dass gerade die Sozialdemokraten, namentlich Steinmeier und Schwesig, lange viel für ein gutes und enges Verhältnis zum Russland Wladimir Putins getan haben. Zu jenem Land und Herrscher also, der vor mehr als zwei Jahren mit dem mörderischen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat. Obschon keineswegs nur SPD-Politiker die Nähe zu Putin gesucht haben, bemühen sich manche von ihnen seit dem Kriegsbeginn im Februar 2022 darum, Lehren aus der Geschichte zu ziehen.

Doch Selenskyj ist nicht gekommen, um nach hinten zu schauen. Als Bas nach einigen Minuten geendet hat, tritt er um 14.40 Uhr ans Pult. „Der Krieg ist ein Verbrechen gegen das Leben“, beginnt er. Gleich zu Beginn seiner Rede dankt er für die Unterstützung Deutschlands im Abwehrkampf seines Landes gegen Russland. Er dankt, dass die „Menschlichkeit in Ihren Herzen obsiegt“ hat. „Ich danke Dir, Deutschland!“

„Wir werden diesen Krieg nicht vererben“

Selenskyj drückt eine Hoffnung aus, ja, er gibt ein Versprechen ab. „Wir werden diesen Krieg nicht vererben“, sagt er. Europa solle ein „glückliches Haus“ sein für „unsere Kinder und deren Kinder“. Der Gast aus Kiew spricht also vom Kriegsende. Und er macht klar: „Wir werden diesen Krieg zu unseren Bedingungen beenden.“ Dabei geht es ihm zum einen um die Verantwortung, die Russland zu übernehmen habe. Russland, dessen Armee „dutzende Friedhöfe“ hinterlasse. Man werde Russland nicht erlauben, weiter durch Europa zu marschieren.

Selenskyj spricht vor dem Deutschen Bundestag in Berlin
Selenskyj spricht vor dem Deutschen Bundestag in BerlinJens Gyarmaty

Doch Selenskyj macht noch etwas anders deutlich, daran lassen seine Worte keinen Zweifel. Er will nicht, dass der Preis für den Frieden eine Teilung der Ukraine ist. Das fasst er in den Satz, dass kein Land dazu „verurteilt“ werden soll, für Jahrzehnte durch einen Stacheldraht geteilt zu sein. Ohne dass er es so deutlich ausspricht, scheint er sich damit gegen den Gedanken zu wenden, den Krieg dadurch zu beenden, dass man Russland wenigstens einen Teil der Ukraine überlässt. Mehr als 800 Tage halte die Ukraine nun schon dem Aggressor stand. Mancher denke, Putin werde für immer bleiben. Das sei aber eine Illusion, die man zerstören werde.

Zum dritten Mal ist der ukrainische Präsident seit Kriegsausbruch in Berlin, zum zweiten Mal spricht er vor den Abgeordneten im Bundestag – zum ersten Mal macht er es persönlich. Als Selenskyj sich am 17. März 2022 in einer Videoansprache an die Abgeordneten gewendet hatte, war der Beginn des russischen Überfalls auf sein Land noch keinen Monat vergangen, noch wurde spekuliert, dass die Ukraine nicht allzu lange würde Widerstand leisten können – und Kiew zeigte sich enttäuscht von Deutschlands Reaktion und Bundeskanzler Scholz. Selenskyj sagte den Abgeordneten damals, die russische Invasion habe eine Art neuer Mauer mitten in Europa geschaffen, die „zwischen Freiheit und Unfreiheit“ trenne, und er appellierte an Scholz: „Zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die es verdient.“

Wie sich Selenskyjs Verhältnis zu Scholz geändert hat

Mehr als zwei Jahre später leistet die Ukraine nicht nur weiter Widerstand, sondern ist Deutschland zu einem der wichtigsten Unterstützer des Landes geworden. So zeigt der Besuch von Selenskyj in Berlin, im Bundestag, bei der Wiederaufbaukonferenz am Dienstag auch, wie sich das Verhältnis zu Berlin, das Verhältnis zu Scholz verändert hat. Auch wenn der ukrainische Präsident noch immer nicht alles von Deutschland bekommt, was er sich wünscht.

Wenige Stunde vor seinem Auftritt im Bundestag steht Selenskyj neben Scholz im Messegelände im Berliner Westen vor einer blauen Stellwand, die Fahnen der Ukraine, der EU und Deutschlands neben ihnen. Sie begrüßen Staats- und Regierungschefs per Handschlag zur Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine: „Good to see you“, „How are you doing“, gemeinsames Foto, „Thank you“. So geht das viele Minuten lang, die Ministerpräsidenten von Montenegro, Moldau oder Finnland ziehen vorbei wie andere, und zwischen den einzelnen Gästen stehen die beiden zusammen vor den Kameras, warten und reden angeregt miteinander. Verstehen kann man sie nicht. Scholz schmunzelt viel, Selenskyj streicht ihm über die Schulter.

Wenig später steht Scholz in einem großen Raum in einer Messehalle, eine kurze Rede zur Eröffnung der Konferenz. Dienstag und Mittwoch kommen mehr als 2000 Teilnehmer zusammen, um über den Aufbau der Ukraine zu sprechen. Staats- und Regierungschefs sind darunter, viele Minister, Vertreter von Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen und aus der Zivilgesellschaft. Die Konferenz soll der Ukraine eine Zukunft weisen, und somit auch ein Signal des Zusammenhalts an Russland. Es geht aber nicht nur um die Zukunft nach einem Ende des Krieges, der Wiederaufbau läuft, während noch immer gekämpft wird und die Russen das Land bombardieren. „Wir bauen die Ukraine wieder auf – stärker, freier, wohlhabender als zuvor“, sagt Scholz. „Nie waren die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine so eng und so vertraut wie heute.“

Eröffnung einer Panzerwerkstatt von Rheinmetall in der Ukraine

Es ist die dritte Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine, und nach den ersten Treffen im schweizerischen Lugano 2022 und in London 2023 ist es die erste in der EU. Die Bundesregierung hat den Ansatz der Konferenz ausgeweitet, gesamtgesellschaftlich soll er sein. Neben dem wirtschaftlichen und zivilen Aufbau spielen in Berlin auch die Kommunen in der Ukraine eine wichtige Rolle und der Weg des Landes in die EU. So sagt Außenministerin Annalena Baerbock, dass sie sich freue, den Bürgermeister von Charkiw bei der Konferenz wiederzutreffen. Weil die Russen aber in den vergangenen Monaten die Infrastruktur der Ukraine immer gezielter angreifen, und vor allem die Energie- und Wärmeversorgung massiv betroffen ist, soll die Konferenz noch mehr leisten. So sagt es Wirtschaftsminister Robert Habeck, als er im Messegelände eintrifft: Schnell sei er sich mit Selenskyj bei seinem Besuch in Kiew einig geworden, dass dies nicht nur eine Wiederaufbaukonferenz werden müsse – sondern auch eine Verteidigungskonferenz.

Passend zur Konferenz meldet Kiew am Dienstag die Eröffnung eines ersten Panzer-Reparaturbetriebs und einer Produktionsstätte des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall. Vor allem aber braucht es akut Hilfe bei der Luftverteidigung. Kiew drängt darauf seit Monaten. Schließlich muss auch geschützt werden, was wieder aufgebaut wird. „Der beste Wiederaufbau ist der, der gar nicht stattfinden muss“, sagt Scholz bei seiner Eröffnungsrede. Er verweist auf die bereits bekannte Lieferung eines dritten deutschen Patriot-Systems. Selenskyj wird später im Bundestag ganz besonders für die Patriot-Systeme danken. Dazu kommen in den nächsten Monaten Iris-T-SLM-Flugabwehrsysteme, Gepard-Flakpanzer, Flugkörper und Artilleriemunition. Selenskyj bedankt sich für die deutsche Unterstützung bei der Luftverteidigung – und sagt, es brauche sieben weitere Patriot-Systeme, um das Leben der Menschen und die Infrastruktur zu schützen. Scholz schließt seine Rede mit: „Slava Ukraini.“

Bei der Konferenz sollen sich in den Messehallen Netzwerke bilden, Firmen und Kommunen zueinanderkommen. Neben den politischen Diskussionen in den großen Hallen können in dem sogenannten Forum der Konferenz Teilnehmer zusammenkommen, und ihre Projekte vorstellen. Da wird zum Beispiel das digitale Projekt „DREAM“ präsentiert, wo die Kommunen selbst ihre Wiederaufbauprojekte online einstellen und beschreiben können – und Investoren nicht nur Geld dazu geben, sondern auch verfolgen, wie das Projekt vorangeht. Mehr als 4500 solcher Projekte gibt es auf der Internetseite bereits, von Krankenhäusern und Kindergärten bis hin zu Brücken, inklusive Bilder der Zerstörung.

Das Projekt soll durch seine völlige Transparenz auch sicherstellen, dass gar nicht erst der Verdacht von Korruption aufkommt. In Berlin wird der Ukraine auch Unterstützung auf dem Weg in EU zugesagt – und auf notwendige Reformen verwiesen. Man sei überzeugt, sagt Scholz: Eine leistungsfähige Verwaltung auf allen Ebenen, konsequente Korruptionsbekämpfung, eine inklusive Gesellschaft – das sind Voraussetzungen auch für privates Engagement und für den Erfolg des Wiederaufbaus. Dass nur einen Tag vor der Konferenz mit Mustafa Najjem ausgerechnet der Leiter der staatlichen Agentur für Wiederaufbau und Infrastrukturentwicklung zurückgetreten ist, erwähnt er nicht. Er hatte seinen Rücktritt mit Budgetkürzungen begründet und bürokratiebedingten Verzögerungen.

Mit öffentliche Gelder allein ist der Wiederaufbau nicht zu schaffen

Es ist klar, dass mit öffentlichen Geldern allein der Wiederaufbau nicht zu schaffen ist, etwa 500 Milliarden Dollar dürften laut Weltbank in den kommenden zehn Jahren dafür nötig sein. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal geht von allein zehn bis 30 Milliarden Dollar an Investitionen aus, die es in den kommenden zehn Jahren brauche, um die Wirtschaft wieder aufzubauen. Eine Konferenz, um Geld einzusammeln, ist es in Berlin nicht. Vielmehr kreisen die Fragen darum, wie man Unternehmen motivieren aber auch schützen kann, um in der Ukraine zu investieren. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigt in Berlin an, dass die EU Vereinbarungen mit Partnerbanken im Umfang von rund 1,4 Milliarden Euro unterzeichnen werde. So sollen Investitionen der Privatwirtschaft in der Ukraine gefördert werden, sagt sie. Damit sollten Investitionsrisiken abgemildert werden.

Laut Auswärtigen Amt sollen bei der Konferenz zwischen internationalen Partnern und der Ukraine mehrere Absichtserklärungen und Abkommen unterzeichnet werden zur Unterstützung des Wiederaufbaus. Auch eine Initiative zur Ausbildung ukrainischer Arbeiter wird zwischen Deutschland, der Ukraine und weiteren Organisationen vereinbart, mehr als 180.000 Ukrainer sollen so in den kommenden drei Jahren lernen, was beim Wiederaufbau benötigt wird.

Nachdem die Ukraine es in den ersten Wochen und Monaten des Krieges mit offener Kritik an Deutschland und Druck versucht hat, hat Selenskyj davon öffentlich längst abgelassen. Spätestens bei seinem letzten Berlin-Besuch im Februar zur Unterzeichnung der Sicherheitspartnerschaft wurde das deutlich. Weil Deutschland tatsächlich so viel tut, gerade auch, als Amerika schon einmal ausgefallen ist wegen des Streits in Washington. Aber sicher auch, weil Kiew gelernt hat, dass öffentlicher Druck beim Kanzler nicht unbedingt zu Fortschritten führt. So wünscht sich Kiew noch immer den Taurus-Marschflugkörper, ohne das öffentlich immer wieder vorzutragen – selbst als Selenskyj bei einer Pressekonferenz auf der Wiederaufbaukonferenz danach gefragt wird, geht er darauf nicht. Dass Deutschland sich mit Amerika gegen eine schnelle NATO-Mitgliedschaft stellt, beklagt Selenskyj zwar, ohne es in Berlin aber zu wiederholen. Immerhin hat Berlin zuletzt deutlich gemacht, dass die Ukraine zur Verteidigung der Region Charkiw auch auf russische Ziele auf russischer Seite schießen darf.

In seiner knapp zwanzig Minuten langen Rede im Bundestag kommt Selenskyj auf die Friedenskonferenz am Wochenende in der Schweiz zu sprechen. Russland habe versucht, das Treffen zu verhindern, es werde aber stattfinden, zeigt Selenskyj sich zufrieden. „Wir wollen der Diplomatie eine Chance geben“, sagt er. Etwa 100 Staaten würden ihre Vertreter entsenden. Nur die „Einigkeit der Welt“ könne der Ukraine Garantien geben. Es gehe darum zu bestimmen, was in künftigen Zeiten aus Europa werde. „Europa ist der Kontinent ohne Krieg“, sagt er. Immer wieder dankt er seinen Zuhörern: für die Aufnahme vieler seiner Landsleute seit Kriegsbeginn. Aber auch für politische Führung.

Source: faz.net