Selenskyj in Warschau: Die Ukraine-Euphorie welcher Polen ist vorbei

In der polnischen Präsidialkanzlei galt der Termin als einer der heikelsten, seit Karol Nawrocki im August das Präsidentenamt übernommen hat: Mehrfach hatte ihn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach Kiew eingeladen, doch Nawrocki bestand darauf, dass Selenskyj zuerst nach Warschau kommt. Dahinter steckt weniger Eitelkeit als vielmehr ein Gespür Nawrockis für Stimmungen in der Bevölkerung.

Deren Haltung gegenüber der Ukraine hat sich in dem nun fast schon vier Jahre dauernden Krieg verändert. Polen war eines der ersten Länder, die das Nachbarland mit Militärgütern, Munition und humanitärer Hilfe unterstützten, und nahm mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge auf. Doch Umfragen zeigen, dass sich viele Polen heute mehr Wertschätzung für die gezeigte Hilfe wünschen.

In einem Interview mit dem Portal „Wirtualna Polska“ hatte Nawrocki kürzlich kritisiert, er habe das Gefühl, Selenskyj habe sich an Polens Unterstützung gewöhnt und sehe sie inzwischen als selbstverständlich an. Statt mit Polen zu sprechen, sei der ukrainische Präsident „viel eher bereit, sich im Umfeld westeuropäischer Führungspersönlichkeiten zu bewegen“. Er stelle sich die Frage, ob Warschau für Kiew noch wichtig sei, so Nawrocki. Polen sei kein „Juniorpartner“, vielmehr müsse es eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen beiden Ländern geben.

Am Freitag begegneten sich beide Präsidenten nun erstmals persönlich. Selenskyj war bereits am Donnerstagabend aus Brüssel in die polnische Hauptstadt gereist. Die Präsidialkanzlei hatte Sicherheit, Wirtschaft und Geschichte als vorrangige Themen genannt, über die Nawrocki mit Selenskyj sprechen wolle, und zugleich klare Erwartungen formuliert. Dazu zählte, dass polnische Bauern keine Nachteile durch ukrainische Getreideexporte erleiden dürften, sowie eine Zusage Kiews zur unbürokratischen Exhumierung polnischer Opfer der Wolhynien-Massaker im Zweiten Weltkrieg, als ukrainische Nationalisten Zehntausende Polen ermordeten.

„Gute Nachrichten für die Region, schlecht für Russland“

Dieses Thema spielt in der polnischen Gesellschaft keine riesige Rolle, wohl aber in der Wählerschaft radikalnationaler Parteien wie Konfederacja und der antisemitischen Gruppierung um Grzegorz Braun, der bekannt wurde, als er im Sejm einen Chanukka-Leuchter mit einem Feuerlöscher ausblies. Beide Parteien zusammen erreichen in Umfragen gut 20 Prozent. Diese Wähler, die der ­Ukraine mehrheitlich skeptisch gegenüberstehen und etwa Hilfen für Flüchtlinge in Polen kritisieren, stimmten in der Stichwahl um das Präsidentenamt für Nawrocki. Und der will sie nicht verprellen.

„Wir haben ein hartes, ehrliches, sehr freundliches, gentlemanhaftes Gespräch geführt“, sagte Polens Präsident dann am Freitagmittag vor den Medien. Er erwähnte mehrfach, dass Polen der Ukraine Hilfe im Wert von fast fünf Prozent seines Bruttoinlandsprodukts geleistet habe und heute der zentrale Logistikknoten für deren Unterstützung sei. Zugleich ließ er keinen Zweifel daran, dass sein Land der Ukraine weiter helfen werde. Selenskyjs Besuch bedeute „gute Nachrichten für Warschau, gute Nachrichten für Kiew, für unsere gesamte Region und schlechte Nachrichten für Russland“.

Er sei sich mit Selenskyj einig, dass Russland als neoimperialer, postsowjetischer Staat eine Bedrohung für die Ukraine, Polen und ganz Europa darstelle. Eine Bedrohung, fügte Nawrocki an, vor der Polen – namentlich der frühere Präsident Lech Kaczyński – schon vor Jahren gewarnt habe, aber in westeuropäischen Ländern nicht gehört worden sei.

Selenskyj dankte Polen für die Unterstützung und bot seinerseits Hilfe etwa bei der Abwehr von Drohnen an. Mitte September waren gut 20 russische Drohnen nahezu unbehelligt in den polnischen Luftraum eingedrungen. Selenskyj dankte Europa für die Finanzhilfe in Höhe von 90 Milliarden Euro, die in der Nacht zuvor in Brüssel beschlossen worden war. „Dieses Geld ist sehr wichtig für uns.“ Es garantiere finanzielle Unabhängigkeit, falls Russland den Krieg fortsetze. Andernfalls werde man es für den Wiederaufbau verwenden.

„Ohne die Unabhängigkeit der Ukraine wird Moskau zwangsläufig weiter nach Europa vordringen“, so Selenskyj. Er sicherte zu, administrative Hindernisse bei der historischen Aufarbeitung mit Polen zu beseitigen, sagte aber auch, dass man bei der Rhetorik sehr vorsichtig sein und einander respektieren solle. Schließlich lud er Nawrocki abermals nach Kiew ein. Ob der Gegenbesuch schon bald stattfindet, ließ der Gastgeber am Freitag jedoch offen.

Source: faz.net