SCO-Gipfel in China: Das ist die Welt von morgiger Tag, dieser Westen eigentlich die von gestriger Tag
Das Treffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) in Tianjin zeigt, wie sehr Europa im weltpolitischen Ranking an Boden verliert. Diesen Trend beflügeln wacklige Regierungen, die wie in Frankreich unter Verschwindsucht leiden
Wladimir Putin trifft Xi Jinping in Tianjin
Foto: Kyodo News/Imago Images
Im Westen sei Wladimir Putin weitgehend isoliert, aber in China empfange man ihn gern, so wie jetzt zum SCO-Gipfel in Tianjin, vermeldet die 20 Uhr-Tagesschau am 31. August und verfällt einer nur allzu offensichtlichen Lüge. Alaska hat vor gerade einmal zwei Wochen gezeigt, dass über Putin in den USA keine diplomatische Kontaktsperre verhängt ist. Entweder rechnet die Tagesschau die westliche (Noch-)Führungsmacht nicht mehr zum Westen, was ein Eingeständnis wäre, wie sehr der schrumpft und auf Europa wie Kanada reduziert ist.
Oder man setzt sich über Tatbestände hinweg, um die üblichen Narrative nicht antasten zu müssen. Wie es rhetorischen Klischees im Fernsehen zuweilen geschieht, kollidieren sie mit den Aussagen der Bilder. Man sah wie Putin von Gastgeber Xi Jinping mit den gleichen Insignien und Gesten begrüßt wurde wie am 15. August von Donald Trump in Anchorage (Alaska): Roter Teppich, Tätscheln, Händedruck, Gruppenfoto. Statt distanzierter Kühle verbindliches Entgegenkommen – ohne Überschwänglichkeit oder gespreizte Symbolik.
Hinter derartigen Szenen steht nicht nur ein bilaterales Verhältnis, sondern gleichsam der kooperative Wille einer Staatenassoziation wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) mit ihrem gerade abgehaltenen Gipfel in Tianjin. Diese SCO ist heute nicht nur der Vorgriff auf eine multipolare Weltordnung, sondern deren Ausdruck – sie versteht sich als Teil einer Alternative zur bestehenden.
Die Mitgliedsländer sollten ihre „Mega-Märkte“ nutzen, sagt Präsident Xi
Dabei sind es nicht allein Xi Jinping und Putin, die sich dafür verwenden, sie haben politische Schwergewichte an ihrer Seite. Indiens Premier Narendra Modi kam nach Tianjin und konferierte umgehend mit Xi Jinping. Auf dem SCO-Gruppenfoto wirkte Qassym-Schomart Toqajew, der Staatschefs Kasachstans, neben Putin so ebenbürtig wie selbstbewusst, erst recht Prabowo Subianto aus Indonesien, einer Regionalmacht. Irans Präsident Massud Peseschkian aus einem unlängst von den USA und Israel mit einer Luftaggression bedachten Land stand genauso in der ersten Reihe wie Usbekistans Staatsoberhaupt Shavkat Mirziyoyev. Der SCO-Dialogpartner Türkei wollte durch Recep Tayyip Erdoğan vertreten sein und war es.
Eine strategische Allianz über Kontinente und Interessengegensätze hinweg, die bis zur bewaffneten Konfrontation (Indien/Pakistan) führen können. Gerade darin besteht das Paradigmatische dieser Staatenunion, wenn sie sich mit den Vereinten Nationen solidarisiert und ihnen anbietet, fremdverschuldete Ohnmacht durch die reale Macht der SCO zu kompensieren. Präsident Xi sagte in seiner Eröffnungsrede, man baue am „neuen Modell eines wahren Multilateralismus“. Die Mitgliedsländer sollten ihre „Mega-Märkte“ (!) nutzen, um Handel und Investitionen anzukurbeln.
China gedenkt, noch 2025 zwei Milliarden Yuan (80 Millionen Dollar) an nicht rückzahlbarer Hilfe für die Mitgliedsstaaten und weitere 10 Milliarden Yuan (400 Millionen Dollar) als Kredite für ein SCO-Bankenkonsortium bereitzustellen. Bei alldem war der Ukraine-Krieg zweifellos ein Thema, aber eben auch kein vorrangiges. Fast hat es den Anschein, als wollten die SCO-Staaten mit dem Langmut ihrer Souveränität abwarten oder aussitzen, bis das Gros der westlichen Staaten begreift, wie man sich mit Kompromisslosigkeit, Feindbildern und Hysterien selbst isolieren kann. Nicht Putin, das eigene weltpolitische Ranking leidet darunter.
Erst der BRICS-Gipfel Anfang Juli in Rio de Janeiro, jetzt der SCO-Treffen in Tianjin hinterlassen den Eindruck, dass Weltregionen links liegengelassen werden, die großen Wert darauf legen, globalen Umwälzungen nicht gewachsen zu sein.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben – in der Tat
So hatte „der Westen“, wie er sich in Europa zu behaupten sucht, unter der Führung Deutschlands nach Alaska nichts Eiligeres zu tun, als die Ukraine-Frage auf die von „Sicherheitsgarantien“ zu reduzieren und die Botschaft zu verschicken: Wir haben nichts verstanden, weil wir nichts verstehen wollen. Oder es uns nicht leisten können, etwas zu verstehen. Zum Beispiel das Junktim: Einen Friedensschluss in der Ukraine kann es nur mit einer über die Ukraine hinausgehenden, sie aber sehr wohl schützenden europäischen Friedensordnung geben.
Von dieser Verbundlösung wird Russland nicht abzubringen sein. Wenn dann NATO-Länder laut darüber nachdenken, Militär in der Ukraine platzieren zu wollen, ist das ein Statement gegen den Geist von Alaska. Verkündet wird nicht expressis verbis, jedoch ohne Umschweife: Wir wollen keine Europa in Gänze erfassende Übereinkunft. Wir wollen die seit 1990 entstandenen sicherheitspolitischen Unwuchten fortschreiben. Im Klartext: Wir wollen für die Ukraine keinen Frieden mit Russland – das ist unser Projekt, die Ukraine unser Objekt.
Allerdings haben sich diesem Tableau, dem die Teilhabe der Amerikaner abgeht, wacklige Regierung verschrieben, so dass die Hoffnung besteht, es könnte aufgegeben werden müssen. Die Frankreichs kollabiert gerade, die der Niederlande ist nur noch auf Abruf im Amt, in Polen glimmt zwischen dem Präsidenten und Premier eine Kohabitation gegenseitiger Verachtung, in Spanien ist Premier Pedro Sánchez ständig vom Koalitionsbruch bedroht. In Deutschland wirkt die Regierung Friedrich Merz schon vor dem Herbst der Reformen zerrissen.
Es wurde im DDR-Wendeherbst 1989 der Michail Gorbatschow zugeschriebene Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ häufig und genüsslich zitiert. In der Tat, so ist es. BRICS und SCO verkörpern die Welt von morgen, die NATO und der Westen eher die von gestern.