Schweizer Konzern: Neuer Nestle-Chef streicht 16.000 Stellen

„Wir haben noch viel Arbeit vor uns“, sagte Philipp Navratil am Donnerstag bei seinem ersten öffentlichen Auftritt als Vorstandsvorsitzender von Nestlé. Doch wenige Augenblicke später war klar, dass die Arbeit von Tausenden Nestlé-Mitarbeiter bald zu Ende geht. Navratil kündigte den Abbau von 16.000 Stellen ab. Aktuell beschäftigt der größte Lebensmittelkonzern der Welt 277.000 Mitarbeiter.
Betroffen sind 12.000 Büroangestellte rund um den Globus und 4000 Mitarbeiter in der Produktion. Von dieser Maßnahme verspricht sich Nestlé Einsparungen von 1 Milliarde Franken – das ist doppelt so viel wie ursprünglich geplant. In der Folge sollen die Kosten bis Ende 2027 insgesamt um drei Milliarden Euro sinken gegenüber bislang avisierten 2,5 Milliarden Euro.
„Die Welt verändert sich – und Nestlé muss sich schneller verändern“, sagte Navratil, der erst vor gut sechs Wochen an die Vorstandsspitze gerückt ist. Der 49 Jahre alte Schweizer löste Laurent Freixe ab, der wegen einer verheimlichten Liebesbeziehung zu einer ihm unterstellten Mitarbeiterin fristlos entlassen wurde. Anfang Oktober gab der langjährige Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke sein Amt an den Spanier Pablo Isla ab. Das neue Führungsduo zeigt sich nun entschlossen, die Wachstumsschwäche zu beenden, die den Aktienkurs des früheren Börsenlieblings in den vergangenen Jahren schwer belastet hat.
„Es ist nicht mehr akzeptabel, Marktanteilsverluste hinzunehmen“
In den ersten neun Monaten erzielte Nestle einen Umsatz von 65,9 Milliarden Franken. Bereinigt um Wechselkurseinflüsse sowie Zukäufe und Verkäufe von Geschäftsbereichen erreichte der Hersteller von Nespresso, Maggi und Kitkat damit ein organisches Wachstum von 3,3 Prozent. Im dritten Quartal wuchs der Umsatz organisch um 4,3 Prozent. Das war mehr, als von Analysten erwartet, weil die verkauften Volumina – internes Realwachstum genannt – um 1,5 Prozent stiegen. Bei dieser wichtigen Kennziffer hatte im zweiten Quartal noch ein Minus vor dem Komma gestanden. Navratil sprach denn auch von einem „starken dritten Quartal“, in dem die Wachstumsinvestitionen begonnen hätten, Früchte zu tragen. Er bestätigte die Prognose für das Gesamtjahr und befand: „Wir sind auf dem richtigen Weg. Jetzt müssen wir schneller vorankommen.“
Die Kultur von Nestlé habe viele Stärken, aber es gebe auch Bereiche, in denen man sich weiterentwickeln müsse. „Es ist nicht mehr akzeptabel, Marktanteilsverluste hinzunehmen – diese Denkweise muss sich ändern.“ Navratil kündigte eine schonungslose Analyse des Konzerns mit seinen mehr als 2000 Marken an: „Ich werde jeden Teil unseres Portfolios kontinuierlich und unvoreingenommen überprüfen, ohne mich von vorgefassten Meinungen beeinflussen zu lassen.“ Er werde jedes Geschäft anhand der Wachstumsaussichten und des Renditeprofils untersuchen. Falls die Bewertung ergebe, dass das eine oder andere Geschäft die notwendigen Kriterien nicht erfülle, „werden wir Maßnahmen ergreifen, sei es in Form von Korrekturen, Partnerschaften oder Verkäufen“.
Illegale Methoden zum Filtern von Mineralwasser
Tatsächlich setzen Analysten darauf, dass es unter der neuen Führung zu deutlichen Kurskorrekturen kommt: „Ich erwarte, dass Navratil gewisse strategische Anpassungen vornimmt und das Portfolio strafft“, sagte Matthias Geissbühler, Anlagechef der Schweizer Raiffeisen-Bankengruppe, gegenüber der F.A.Z. Nichts zu tun, sei keine Option. „Da muss jetzt etwas passieren. Das ist die Erwartung der Anleger.“ Auch Jean-Philippe Bertschy, Analyst der Bank Vontobel, fordert „mutige, proaktive Veränderungen“. Diese seien umso zwingender, als die Turbulenzen im Management und das gedämpfte Wachstum die Wettbewerbsposition und die Stimmung gegenüber dem Konzern beeinträchtigt hätten. „Es bleibt keine Zeit zum Abwarten – es ist Zeit für sofortige, gezielte Maßnahmen.“ Die Aussagen und Ankündigungen Navratils vom Donnerstag deuten aus Bertschy Sicht in die richtige Richtung.
Im Markt kursieren etliche konkrete Vorschläge dazu, wo das neue Duo Isla und Navratil die Axt ansetzen sollte. Im Geschäft mit abgefülltem Mineral- und Tafelwasser, das vier Prozent zum Konzernumsatz beiträgt, könnte man weitergehen als bisher geplant. Statt nur einen Finanzinvestor an Bord zu holen und die ausgegliederte Einheit gemeinsam mit diesem zu führen, könnte Nestlé einen Komplettverkauf ins Auge fassen. Schließlich liegt die operative Umsatzrendite im Wassergeschäft, zu dem Marken wie Perrier, S. Pellegrino, Vittel und Aqua Panna gehören, mit zuletzt knapp zehn Prozent deutlich unterhalb des Konzerndurchschnitts von 16,5 Prozent. Außerdem sorgt es immer wieder für Skandale, die den Ruf des gesamten Unternehmens schädigen. In Frankreich zum Beispiel kam heraus, dass Nestlé jahrelang illegale Methoden zum Filtern von Mineralwasser eingesetzt hat.
Chronisch schwaches Tiefkühlkostgeschäft
Mit – zum Teil hausgemachten – Problemen kämpfte Nestlé zuletzt auch im Geschäft mit Vitaminprodukten, Mineralstoffen und Nahrungsergänzungsmitteln (Health Science), das Navratils Vorvorgänger Ulf Mark Schneider mit zahlreichen Zukäufen aufgepustet hatte. Einige der neu an Bord geholten Marken wie Nature’s Bounty und Puritan’s Pride sind nicht oder nur schwach profitabel und könnten verkauft werden. Auch in China, dem mit einem Umsatzanteil von sechs Prozent zweitgrößten Einzelmarkt, gibt es angesichts schrumpfender Umsätze Restrukturierungsbedarf.
Nach Ansicht von Analysten sollte Nestlé auch das chronische schwache Tiefkühlkostgeschäft sowie etliche Milchprodukte und die meisten Süßwaren auf den Prüfstand stellen. Letzteren fehlt es nicht nur an Wachstumsphantasie. Weiterhin in großem Stil Süßkram zu produzieren, widerspricht auch dem Versprechen der Konzernführung, gesunde Produkte anzubieten (dokumentiert in dem Slogan „Good Food, Good Life“).
Der Vontobel-Analyst Bertschy rät überdies dazu, die Position im Eiscreme-Geschäft (Schöller, Mövenpick, Häagen-Dazs) zu überdenken. Dieses hatte Nestlé vor einigen Jahren nur zum Teil in ein Gemeinschaftsunternehmen namens Froneri ausgegliedert. Dass der Konzern das Eisgeschäft in Asien, Kanada und Lateinamerika weiterhin in Eigenregie führt, ist für Bertschy nicht nachvollziehbar, zumal Froneri sehr erfolgreich unterwegs sei. Der Rivale Unilever geht da konsequenter vor: Er hat seine Eissparte komplett ausgegliedert will sie nun unter dem Namen „Magnum Ice Cream Company“ an die Börse bringen.
Verkäufe von Unternehmensteilen würden auch helfen, die hohe Verschuldung zu reduzieren. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die 20-Prozent-Beteiligung am französischen Kosmetikkonzern L’Oréal genannt, die einen Börsenwert von rund 40 Milliarden Euro hat.