„Schule des Südens“ von Onur Erdur: Worgut Foucault schwieg

„Mitten in Paris“, schreibt der Politikwissenschaftler Yascha Mounk in seinem Buch Im Zeitalter der Identität, habe kurz nach dem Krieg eine Generation einflussreicher Intellektueller das Ende der „großen Erzählungen“ ausgerufen. Gemeint sind Poststrukturalist:innen wie Michel Foucault, Jean-François Lyotard, Pierre Bourdieu oder Hélène Cixous. „Sie bestritten, dass es eine universelle Wahrheit gäbe; dass einige Werte anderen objektiv überlegen seien; und vor allem, dass ein echter Fortschritt hin zu einer besseren Gesellschaft möglich sei.“ So hätten sie zum „Aufstieg einer gefährlichen Idee“ beigetragen, ist sich Mounk sicher.

Der Vorwurf, die französische Theorie habe den aufgeheizten und überdrehten identitätspolitischen Debatten heutiger Tage Vorschub geleistet, ist nicht neu. Und doch wünschte man Mounk und allen anderen Ankläger:innen, sie hätten Onur Erdurs neues Buch über „die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie“ gekannt, bevor sie zum Rundumschlag ausholten. In acht Porträts erschließt der Berliner Kulturwissenschaftler eine neue Geografie des französischen Denkens, indem er das Verhältnis von Leben und Theorie erkundet. Die Frage, wie sich menschliche Erfahrung so nah an das Geistig-Theoretische heranrücken lässt, „dass man das eine in das andere hinübergleiten sieht“, steht im Mittelpunkt seiner Untersuchung.

Der Kolonialismus in der französischen Theorie

Die menschliche Erfahrung bezieht sich dabei auf den kolonialen Hintergrund, der viele französische Intellektuelle im 20. Jahrhundert miteinander verbindet. Mit Blick auf die großen Namen der französischen Theorie wurzelt selbige nicht in Paris, sondern in Algier, Casablanca und Tunis. Dass ihre berühmtesten Vertreter als Repräsentanten Frankreichs von den kolonialen Kräfteverhältnissen profitierten, indem sie Lehrstühle an den Universitäten in den französischen Kolonien bezogen und inmitten von Armut und Gewalt unter geradezu luxuriösen Verhältnissen lebten, beschreibt das „koloniale Dilemma“, das bei der Untersuchung der französischen Theorie – von der theoretischen Analyse bis hin zur anekdotisch-biografischen Spurensuche – bislang kaum Beachtung findet.

Mutmaßlich ist bereits die Ignoranz der kolonialen Grundierung der französischen Philosophie und Soziologie Ausdruck kolonialer Gewalt, denn die Prägung durch Erfahrungen im kolonialen sowie im de- oder postkolonialen Kontext liegt auf der Hand. Bourdieu und Lyotard hielten sich bereits in den 1950ern in Algerien auf, ihr Denken und Schreiben stand immer unter dem Eindruck der Brutalität Frankreichs im Algerienkrieg. Den Erfinder der Dekonstruktion, Jacques Derrida, und die Feministin Hélène Cixous verbinden ihre algerisch-jüdischen Wurzeln sowie die daran gebundenen traumatischen Erfahrungen. Roland Barthes und Michel Foucault ließen es in Marokko und Tunesien krachen, verfolgten erotische Abenteuer und entwickelten neue Ansätze und Ideen. Poststrukturalisten der zweiten Generation wie Étienne Balibar oder Jacques Rancière politisierten sich vor dem Hintergrund der Proteste gegen den Algerienkrieg und besuchten nach der Unabhängigkeit das Land. Dass dieser offensichtliche koloniale Konnex in der Analyse der französischen Theorie bislang nur eine untergeordnete Rolle spielt, lässt selbst Rückschlüsse auf koloniales Gebaren zu.

Der 1984 im türkischen Diyarbakır geborene Kulturwissenschaftler Onur Erdur hat in Zürich über den Zusammenhang von Molekulargenetik und Poststrukturalismus im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre promoviert, an der Berliner Humboldt-Universität beschäftigt er sich nun mit der Geschichte der französischen Philosophie im 20. Jahrhundert sowie globalgeschichtlichen und postkolonialen Perspektiven. Der 40-Jährige steht also voll im Stoff, entsprechend packend liest sich auch seine Schule des Südens. Aufgrund seiner genauen Kenntnis theoretischer und persönlicher Texte gelingt es ihm, historische Momente als individuelle Schlüsselereignisse und Erweckungsmomente zu identifizieren sowie ihre Tragweite aufzuzeigen.

Onur Erdur entschlüsselt die Denker

Der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Vordenker der französischen Soziologie, Pierre Bourdieu, räumte in einem seiner letzten Interviews ein, dass er in Algerien gelernt habe, „mich selbst zu akzeptieren“. Dort diente er erst als Soldat, dann erkundete er als Soziologe die Lebensverhältnisse in der algerischen Provinz und entwickelte dort sein Habitus-Konzept. „Algerien war zweifelsohne auch das Laboratorium für Bourdieus Theorie der sozialen Welt“, so Erdur.

So fliegt man vor dem Hintergrund der Dekolonialisierung des Südens durch Leben und Texte der Stars der französischen Theorie, bekommt die eindrückliche Kritik am Kolonialismus in Roland Barthes’ Mythen des Alltags entschlüsselt, setzt sich mit Foucaults ohrenbetäubendem Schweigen über den Kolonialismus auseinander und geht Derridas Aussage auf den Grund, dass „alles, was ich mache, schreibe und zu denken versuche, eine gewisse Affinität zur Postkolonialität“ besitzt.

Deutlich wird dabei vor allem, wie die persönliche Zerrissenheit zwischen Herkunft und Identität, Erfahrung und Beobachtung, Habitus und Haltung nicht nur zu einem jahrzehntelangen Schweigen über das „koloniale Dilemma“, sondern auch zu einer Auflösung der Kategorien geführt hat. „Alles, was ich weiß, ist, dass die Welt mehr als eine Welt ist“, sagte die Feministin Hélène Cixous einmal in einem Interview. Onur Erdur legt in seinem ebenso klugen wie unterhaltenden Werk die Wurzeln von aktuellen Kampfbegriffen wie „Ethnopluralismus“, „Genderfluidität“ und „Intersektionalität“ frei und nimmt deren falschen Freunden den Wind aus den Segeln.

Ohne die koloniale Erfahrung, da ist sich Erdur sicher, hätte es keine französische Theorie gegeben. Ihre Protagonisten „sind in die Schule des Südens gegangen, wurden sich selbst dabei fremd, ihrer Sprache und ihrer Nation, und haben dadurch ihre Philosophie und ihren Stil gefunden“. Solange rassistische, sexistische und (neo-)koloniale Strukturen wirken, werden ihre Positionen Fixpunkte eines kritischen Denkens bleiben.