Schuldgefühle: Warum Joe Biden nicht beilegen will

Nein heißt zwar nein, aber ja heißt glücklicherweise nicht immer ja: Deswegen können wir noch ein wenig Hoffnung haben, dass der Greis im Weißen Haus es doch noch schafft, seine Präsidentschaftskandidatur zurückzuziehen, trotz seiner immer lauter artikulierten Überzeugung, nur er sei derjenige, der die Rückkehr von Donald Trump verhindern könne: „Ich habe ihn damals geschlagen, ich kann ihn wieder schlagen.“ Dabei zeigen die Umfragen seit dem desaströsen TV-Duell, dass Biden sein gespaltenes Land immerhin in einer Frage zusammengebracht hat: der Überzeugung, er sei zu erschöpft und zu alt.

Joe Bidens Präsidentschaft war überraschend effektiv und progressiv. Ihm stünde viel Dank zu, hätte er sich würdevoll aus dem Geschäft gezogen. So aber hält er an einer Kandidatur fest, die Gefahr läuft, das immer noch stärkste Land der Welt einem wahrscheinlich sehr viel strategischer und brutaler agierenden verurteilten Straftäter auszuliefern. Spätestens seit dem Anschlag auf den Präsidentschaftskandidaten Trump wäre jetzt alles möglich.

Alle sehen es, nur Joe Biden und sein Umfeld nicht. Allenthalben wird sich nun gefragt, warum Biden so an der Macht (actually: an der sicheren Niederlage) klammert. Ist es sein Wille zur Macht, ist es strategische Überzeugung, ist es gar Jill „Lady Macbeth“ Biden, die ihn zum Zwecke ihrer Macht an der Macht hält? Falsch, alles falsch. Die haben alle keine Ahnung.

Ich dagegen verstehe seine Gründe sehr genau. Und zwar nicht, weil ich als Politikwissenschaftler ein paar Jahre in den USA gelebt und studiert habe. Sondern, weil ich als schwuler Mann mit einer langen Geschichte von Beziehungskonflikten mit Männern glaube, ein Verständnis männlicher Praxis, männlichen Verhaltens entwickelt zu haben, das vor allem dann greift, wenn dieses Verhalten besonders irrational und unverständlich ist. Im Kern davon liegt die Erfahrung des Scheiterns und wie Männer darauf reagieren.

Biden geht es nicht um den Sieg

Erinnert ihr euch noch an 2015? Da kämpfte Biden mit Hillary Clinton um die demokratische Präsidentschaftsnominierung, zog sich dann aber wegen des Todes seines Sohnes Beau aus dem Wahlkampf zurück. Diese nachvollziehbare, mit Sicherheit richtige Entscheidung hatte aber schreckliche Konsequenzen: Clinton, kluge Politikerin, schrecklich schlechte Kandidatin, verlor die Wahl, vier Jahre „American Horror Story“ folgten. Währenddessen zeigten Umfragen immer wieder: Biden hätte gewonnen, vor allem in den wichtigen postindustriellen Swing States wie Ohio und Michigan.

Verkürzt formuliert: Ich glaube, dass Biden sich selbst vorwirft, durch seine Entscheidung damals, sein geliebtes Land ausgeliefert zu haben. Er war damals der Kandidat, der Trump hätte schlagen können – nicht Clinton, nicht Bernie Sanders. Und 2020 bewies er es dann: Er wurde der Kandidat, der Trump schlug, und das nicht zu knapp.

Aufgeben ist für Biden also das größtmögliche Scheitern, mit schrecklichen Konsequenzen. Das war seine Schuld damals, seine Verantwortung, sein persönliches Scheitern. Das darf nicht noch einmal passieren, das muss verhindert werden. Dass er mit seinem Festklammern an der Kandidatur aber wahrscheinlich genau den Outcome macht, den er verhindern will, kann er nicht sehen. Festmachen lässt sich das an Aussagen wie „Wenn ich verliere, aber alles getan habe, dann ist das eben so“. Es geht ihm nicht um den Sieg. Es geht ihm darum, nicht schon wieder das Falsche zu machen.

Echt jetzt. Männer.

Super Safe Space

Tadzio Müller ist Queeraktivist. Im Newsletter friedlichesabotage.net schreibt er gegen den „Normalwahnsinn“ an. Für den Freitag schreibt er abwechselnd mit Dorian Baganz, Elsa Koester und Alina Saha die Kolumne „Super Safe Space“.