Schüler zusätzlich Wehrdienst: „Die Gesellschaft will viel von uns, gibt uns nur wenig zurück“
Laurenz Spies wird nächstes Jahr achtzehn und erwartet Post von der Bundeswehr. Dann wird er einen Fragebogen ausfüllen müssen und zur Musterung eingeladen. Sein Jahrgang 2008 gehört zu den ersten jungen Erwachsenen, die ärztlich untersucht werden, um zu wissen, ob sie für den Wehrdienst geeignet sind. „Für uns ist das ein großes Thema. Die junge Generation spricht viel darüber.“
Spies ist Landesschulsprecher in Hessen. Er verfolgt die politische Debatte aufmerksam und tauscht sich mit seinen Mitschülern aus. „Die meisten jungen Leute stehen dem Wehrdienst kritisch gegenüber. Sie sehen die Gefahrenlage durch Russland, aber sie wollen nicht verpflichtet werden.“
Eine Wehrpflicht ist auch erst einmal vom Tisch, zunächst setzt die Bundesregierung beim Wehrdienst auf Freiwilligkeit. Durch junge Menschen, die sich freiwillig zum Dienst an der Waffe bereit erklären, soll die Zahl der Wehrdienstleistenden aufwachsen. Für den Fall, dass sich nicht genügend Freiwillige finden und die Anmeldungen bei der Truppe unter dem Bedarf bleiben, will der Bundestag aber nachsteuern. Dann soll das Los entscheiden. „Niemand findet ein Losverfahren gerecht“, sagt Spies. „Wir sind erleichtert, dass es eine Entscheidung gibt und zunächst auf freiwilliger Basis geplant wird.“

Zunächst wird zwar niemand gegen seinen Willen zur Bundeswehr eingezogen. Trotzdem: Bei vielen jungen Männern schwingen ganz konkrete Zukunftsängste mit, wenn sie sich mit dem Wehrdienst beschäftigen. „Sie haben andere Wünsche, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen“, sagt Spies. Und manche hätten auch Angst vor einem Nachteil durch ein „verlorenes Jahr“, wenn sie tatsächlich eingezogen würden. „Die Gesellschaft will viel von uns, gibt uns aber wenig zurück.“
Die Politik will den Wehrdienst auch durch finanzielle Anreize attraktiv machen und wirbt mit einem Gehalt von 2600 Euro und mit Zuschüssen zum Führerschein, falls man sich für mehr als ein Jahr verpflichtet. Spies kann sich vorstellen, dass es für einige seiner Altersgenossen ein Anreiz wäre, „wenn sie bei der Musterung ein attraktives Angebot bekommen“.
Sonderbehandlung der Frauen umstritten
Auch junge Frauen sollen zum 18. Geburtstag angeschrieben werden. Anders als ihre männlichen Altersgenossen müssen sie den Fragebogen aber nicht zurücksenden. Spies sieht das kritisch: „Wenn man auf Gleichberechtigung hinarbeitet, sollte es auch gleiche Rechte und Pflichten geben“, sagt er. Aber das sei seine persönliche Meinung und nicht die des Landesschülerrats.
Ganz persönlich kann Spies die neuen Regeln für den Wehrdienst auch gut nachvollziehen. Er meint, dass die Bedrohungslage durch Russland Deutschland keine andere Option lasse, als seine Verteidigungsbereitschaft zu verbessern. „Ich würde lieber unser Land, unsere Demokratie und unsere Freiheitswerte verteidigen, als von Russland eingenommen zu werden.“ Denn ein Leben in Unfreiheit sei vermutlich nicht lebenswert. Spies wünscht sich, dass die Jugend stärker in die Debatte über solche Fragen eingebunden wird: „Das Verteidigungsministerium sollte über einen Jugend-Beirat nachdenken.“
Frankfurts Stadtschulsprecher Robert Buruiana sieht die Sache etwas anders. Er gehört zum Jahrgang 2007 und ist erleichtert, dass er nicht zur Musterung muss. Buruianas Familie kommt aus Moldawien, das an die Ukraine grenzt. Der Konflikt ist für ihn daher auch emotional besonders nah. „Meine Freunde sind eher gegen den Wehrdienst. Viele haben Angst vor einem Lotterie-System und wollen nicht in den Krieg ziehen.“ Auch er versteht, dass Deutschland angesichts der russischen Bedrohung Stärke demonstrieren will. „Aber ich glaube, dass man den Konflikt auch anders lösen kann. Politisch, durch Verhandlungen.“
Jugendoffiziere sollen informieren, nicht anwerben
Auch von einem Pflichtjahr, wie es der Bundespräsident als Dienst an der Gesellschaft fordert, hält Buruiana nichts. „Man sollte das den Leuten nicht aufzwingen. Sie sollten die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen.“
Aber wissen die jungen Leute überhaupt, was sie bei der Bundeswehr erwartet? Buruiana meint, ein informatives Gespräch könne helfen, damit sich jene, für die es infrage kommt, freiwillig für den Wehrdienst entscheiden. Er steht darum auch den Besuchen von Jugendoffizieren im Schulunterricht aufgeschlossen gegenüber. „So ein Gespräch könnte helfen, damit sich die Interessierten informieren können.“ Aber eines ist ihm wichtig: Anwerben dürfen die Offiziere nicht.
Kaum ein Thema ist unter Schülern so umstritten wie die Besuche der Bundeswehr an Schulen. Das Land Hessen hat dazu eine Kooperationsvereinbarung mit der Bundeswehr geschlossen, die erst im Juni erneuert worden ist. Die Jugendoffiziere sollen mit ihren Schulbesuchen einen Beitrag zur politischen Bildung leisten und zur „Werte- und Demokratiebildung“, wie eine Sprecherin des Kultusministeriums erläutert.
Die Schulen können die Jugendoffiziere als externe Referenten für Sicherheitspolitik einladen. Sie informieren die Schüler über die Ziele und Strategien der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, über globale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sowie die nationalen und europäischen Sicherheitsinteressen.
Mehr als 150 Besuche im vergangenen Schuljahr
Das Interesse an solchen Besuchen schwankt von Jahr zu Jahr. Im Schuljahr 2022/2023 fanden 139 Besuche statt, ein Jahr darauf waren es 179 Besuche und im vergangenen Schuljahr 159 Besuche. „Wichtig ist zu sagen, dass die Jugendoffiziere nicht für die Bundeswehr im Sinne eines möglichen Wehrdienstes oder allgemein für eine Karriere bei der Bundeswehr werben dürfen“, sagt die Sprecherin des Kultusministers. Dies verbiete zum einen der Auftrag, den die Jugendoffiziere von ihrem Kommando erhalten, und zum anderen die Kooperationsvereinbarung zwischen den Jugendoffizieren in Hessen und dem Ministerium.
Formal hat der Landesschülerrat zwar einen Beschluss gefasst, dass er sich gegen solche Besuche stellt. Allerdings ist der schon einige Jahre alt. Der Landesschulsprecher Spies kann sich angesichts der aktuellen politischen Entwicklung vorstellen, dass sich die Position des Landesschülerrats zu den Schulbesuchen der Jugendoffiziere geändert hat. Er kündigt an: „Wir werden uns noch einmal damit beschäftigen.“
Bundeswehr sieht wachsendes Interesse
Das Landeskommando Hessen der Bundeswehr meint, dass sicherheitspolitische Fragen für viele Schüler an Bedeutung gewonnen haben. „Im Zuge des russischen Angriffskrieges ist festzustellen, dass sich die Schülerinnen und Schüler intensiver mit Themen der Sicherheitspolitik auseinandersetzen, insbesondere da sie durch die Folgewirkungen tangiert werden“, teilt eine Mitarbeiterin der Pressestelle mit und verweist auf die mediale Berichterstattung, zum Beispiel in den sozialen Medien, den gesamtgesellschaftlichen Diskurs, aber auch auf die Tatsache, dass in den hessischen Schulen viele Mitschüler angekommen sind, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen mussten. „Gleichermaßen tragen aber auch andere Krisen und Konflikte zu einem gesteigerten sicherheitspolitischen Interesse junger Menschen bei.“
Die Bedeutung der Jugendoffiziere als sicherheitspolitische Referenten sei seit 1958 unverändert, teilt das Landeskommando der Bundeswehr mit. Sie betrieben aber keine Personalgewinnung oder Personalwerbung. Dies sei Aufgabe der Personalgewinnungsorganisation der Bundeswehr mit ihren Karriereberatenden. „Schülerinnen und Schüler, die sich für eine Tätigkeit in der Bundeswehr interessieren, werden an diese verwiesen.“

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch für Hannes Kaulfersch vieles verändert. Die konkrete Bedrohung durch Russland hat bei dem früheren Stadtschulsprecher von Frankfurt zu einem Umdenken geführt. Über kaum eine Frage werde an den Schulen so kontrovers diskutiert wie über den Besuch von Jugendoffizieren der Bundeswehr im Unterricht. Kaulfersch ist inzwischen der Meinung, dass Jugendoffiziere durchaus an den Schulen referieren und mit den Schülern diskutieren sollten: „Ich traue einer elften Klasse zu, dass sie sich kritisch mit einem Bundeswehrsoldaten auseinandersetzen kann.“ Zumal auch immer eine Lehrkraft anwesend sei. „Wahrscheinlich ist ein Offizier auch eher auf der Höhe der sicherheitspolitischen Analyse als ein Lehrer oder eine Lehrerin.“ Bei vielen Schülern sei das Unsicherheitsgefühl groß – aber auch das Informationsbedürfnis. Informationen aus erster Hand könnten auch der Verbreitung von Fake News entgegenwirken.
Kaulfersch hält in diesem Zusammenhang auch nichts von „alten Ressentiments“: „Es ist alarmierend, dass die letzten Jahre offenbar spurlos am Weltbild einiger Leute vorbeigegangen sind. Man sollte die Bundeswehr nicht an den Rand drängen, sondern in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses stellen.“
Allerdings sollte man einer Klasse den Besuch eines Jugendoffiziers auch nicht aufzwingen. „Wenn beispielsweise traumatisierte Flüchtlinge dabei sind, muss man besonders sensibel mit dem Thema umgehen“, sagt Kaulfersch. Bei der Diskussion über den Wehrdienst und die Wehrpflicht sollte man seiner Ansicht nach auch im Kopf behalten, „dass diese Generation schon bei Corona, der Rente, der Infrastruktur und nicht zuletzt beim Klimawandel die Zeche zahlt“.