Schröder und Müntefering: Wo sind all die Reformer hin?

Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“: Mit diesem Satz leitete Gerhard Schröder, Kanzler einer rot-grünen Bundesregierung, am 14. März 2003 die größte und erfolgreichste Reform des deutschen Sozialstaats seit Bismarck ein. „Einfach mal machen“, hätte Schröder mit CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagen können. Der Unterschied zwischen Schröder und Linnemann: Schröder hat es gemacht, die Union dagegen verschiebt die angekündigten Reformen in allerlei Kommissionen.
Die Helden der damaligen Sozialstaatsreform, das waren drei Männer und eine Frau, alle geboren in den Vierzigerjahren, im Krieg oder kurz danach. Der Soziologe Heinz Bude sieht diese Kriegsgeneration gezeichnet von Entbehrung, Unsicherheit und Verlust. Man war davon überzeugt, dass sozialer Aufstieg nur durch Leistung möglich ist. Deshalb wurden die vier Sozialdemokraten. Die SPD schien ihnen das Aufstiegsversprechen am gerechtesten zu verwirklichen. Sie verstanden sich als Reformer. Die Revolution überließen sie den nachfolgenden Achtundsechzigern. Deren Traumtänzerei begleiteten sie mit Kopfschütteln.
Würdigen wir also die Leistungen dieser Sozialdemokraten, um daraus womöglich verstehen zu können, warum damals möglich war, was heute so viel schwerer fällt.
Fordern und Fördern
Meine „Hall of Fame“ eröffne ich mit Gerhard Schröder (Jahrgang 1944). Schröder, damals noch kein Helfershelfer Russlands, hat die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 durchgesetzt. Zentrale Inhalte waren die Zusammenlegung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe, eine deutliche Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln bei der Annahme einer Arbeit und eine stärkere Kontrolle der Hilfeempfänger. Der Grundsatz lautete „Fordern und Fördern“.
Dahinter verbirgt sich nicht nur die Erfahrung der Kriegsgeneration, sondern auch der Grundsatz der Sozialen Marktwirtschaft und der katholischen Soziallehre, wonach jedermann für sein Leben selbst verantwortlich ist, aber niemand von der Gemeinschaft fallen gelassen wird, der dazu nachweislich nicht in der Lage ist. Vorbilder eines solchen „dritten Weges“ zwischen Markt und Staat waren Präsident Bill Clinton in den USA und Premierminister Tony Blair in Großbritannien.
Doch die Agenda 2010 ist nicht alles. Flankiert wurde die Reform von zwei gravierenden Änderungen der Finanzverfassung, die Finanzminister Hans Eichel (Jahrgang 1941) zu verantworten hatte. Eine große Steuerreform hatte den Spitzensteuersatz von 53 um elf (!) Prozentpunkte auf 42 Prozent gesenkt. Der Eingangssteuersatz halbierte sich von knapp 30 auf 15 Prozent. Freibeträge wurden erhöht, Abzugsmöglichkeiten vereinfacht. Hinzu kommt, heute fast vergessen, aber extrem folgenreich, die Entflechtung der sogenannten Deutschland AG, der Überkreuzbeteiligung von Konzernen und Banken, die jegliche kapitalistische Dynamik lähmte und ein Hauptgrund der wirtschaftlichen Stagnation war. Eichels Reform stellte Veräußerungsgewinne aus dem Verkauf von Unternehmensanteilen steuerfrei, was die Entflechtung ermöglichte und eine Dynamik von Unternehmensverkäufen und Fusionen freisetzte.
Positive Bilanz, sind die Forscher einig
Der Dritte im SPD-Männerbund war Arbeitsminister Franz Müntefering (Jahrgang 1940). In einem Überraschungscoup hatte er 2007 (da schon in der großen Koalition) die „Rente mit 67“ auf die Tagesordnung gesetzt: unerwartet, schnell und ohne vorherige große öffentliche Vorbereitung. Heute würde man so etwas die „Methode Kettensäge“ nennen. Reformen, über die lange palavert wird, haben immer das Risiko, dass sie nie umgesetzt werden. Zugleich nahm Münteferings Reform Rücksicht darauf, dass Menschen „mitgenommen werden“ wollen. Das Gesetz kam im Hauruckverfahren, für dessen Umsetzung indes wurde ein langer Zeitraum von 2012 bis 2029 angesetzt. Zum ersten Mal seit Bismarck hatte die Politik einen Zusammenhang zwischen Lebensarbeitszeit und Lebenszeit anerkannt.
In der heutigen Debatte um die Last künftiger Renten muss unbedingt noch eine Sozialdemokratin genannt werden, die damalige Sozialministerin Ulla Schmidt (Jahrgang 1949). Ihr ist der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor zu verdanken, der die Rentenanpassung auf das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern bezieht. Sinkt die Zahl der Beitragszahler aus demographischen Gründen oder infolge wachsender Arbeitslosigkeit, dann steigen die Renten langsamer als die Löhne. Genau diesen von dem Ökonomen Bert Rürup entwickelten Mechanismus wollen die Sozialdemokraten heute außer Kraft setzen.
Die Bilanz dieser Reformen des sozialdemokratischen Quartetts ist überwältigend positiv. Darüber sind sich alle Forscher heute einig. Dass die Arbeitslosigkeit von über zehn Prozent im Jahr 2000 auf knapp fünf Prozent im Jahr 2019 zurückging, hat sicher viele Gründe. Der Anteil der Reformen der Schröder-Regierung wird von Wirtschaftswissenschaftlern auf immerhin 20 bis 40 Prozent geschätzt. Zu loben wäre, dass die Gewerkschaften (vor allem die IG Metall) damals zu einer Flexibilisierung des Flächentarifs bereit waren, die eine dezentrale Lohnfindung ermöglichte.
Warum ist heute nicht möglich, was damals möglich war? Warum waren die Sozialdemokraten damals die Treiber, wo sie heute die Bremser sind (und die Union nicht so richtig weiß, was sie will)? Vieles hängt daran, dass in den Jahren nach 2000 das allgemeine Krisenbewusstsein ausgeprägter war als heute. Reale, nicht nur drohende Arbeitslosigkeit war als Thema in jedem Haushalt präsent. Eine vergleichbare Erfahrung fehlt heute. Dass irgendwann die Renten nicht mehr finanzierbar sein werden, ist dagegen eine abstrakte Wahrheit, die zudem seit Jahren wiederholt wird, während sich ihre Abschreckungswirkung abnutzt. Ein prägendes Reformnarrativ fehlt heute. Stattdessen werden Besitzstände verteidigt.
Hinzu kommt: Unionsgeführte Bundesregierungen profilieren sich eher als Bewahrer des Wohlfahrtsstaats. Sie sind im wörtlichen Sinn konservativ: Sozialleistungen werden erhalten und ausgebaut (Pflegeversicherung, Mütterrente). Leider haben die Sozialdemokraten ihre progressive Tradition inzwischen vergessen und verraten. Sie sind ebenfalls konservativ geworden: Merz und Klingbeil bilden eine konservative Bastion der Reformverweigerung.
Schröder, Müntefering, Eichel und Schmidt waren ein starkes Führungsquartett. 2005 mussten sie den Preis für die Reformen zahlen: Sie wurden abgewählt. Schwarz-Rot heute will lieber an der Macht bleiben als reformieren. Den Preis zahlen wir alle.