Schlechte Prognosen: Noch 15 Jahre Stagnation in Deutschland?

Der Gegensatz könnte kaum größer sein. Friedrich Merz verbreitet am Donnerstagmorgen in der Pressekonferenz nach dem Koalitionsausschuss Optimismus. „Wir beschließen ein arbeitsintensives und erfolgreiches Jahr 2025“, sagt der Kanzler und CDU-Chef. Er verweist vor allem auf die diversen Beschlüsse zum Bürokratieabbau. So viele Reformen habe es in Deutschland noch nie gegeben. Auch Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) ist voll des Lobes. Die Regierung lege „den klaren Fokus auf wirtschaftliche Stärke“, sagt er. Das werde sich 2026 zeigen.
Zwei Stunden später veröffentlicht das Münchner Ifo-Institut eine Prognose, die es in sich hat. Die Konjunkturforscher streichen darin nicht nur die Wachstumsprognosen für 2025 und 2026 zusammen, sie verabschieden sich auch von der Hoffnung, dass wirtschaftlich in diesem Land mittelfristig etwas aufwärts gehen wird. „Wenn wir keine Strukturreformen und keinen Zuwachs beim Arbeitskräftepotenzial bekommen, dann schrumpft das Potenzialwachstum bis Ende des Jahrzehnts gegen Null und kippt in den Dreißiger Jahren ins Negative“, sagt Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser der F.A.Z.
Mit anderen Worten heißt das: Ohne große Reformagenda drohen Deutschland fünfzehn weitere Jahre des wirtschaftlichen Stillstandes oder sogar der Schrumpfung. Ein solches Szenario hat es für die Bundesrepublik noch nie gegeben. Für jeden einzelnen Bürger würde das bedeuten, dass die Einkommen pro Kopf im Schnitt stagnieren werden. „Da die Zahl der Rentner steigt, wären die Folgen auf dem Arbeitsmarkt eher glimpflich“, sagt Wollmershäuser, „die tickende Bombe ist das Sozialsystem“. Rente, Gesundheit, Pflege – all das sei ohne Wachstum in jetziger Form bald nicht mehr zu finanzieren.
Warum die Hoffnungen auf wachsende Wirtschaft schwinden
Um zu verstehen, warum die Hoffnung auf eine wachsende Wirtschaft und größeren Wohlstand schwindet, muss man tiefer in die Prognose der Wissenschaftler einsteigen. Bislang waren sie in ihren Vorhersagen immer davon ausgegangen, dass Deutschland früher oder später an die Wachstumsdynamik aus der Zeit vor der Coronapandemie anknüpft. Zur Erinnerung: Damals wuchs das deutsche Bruttoinlandsprodukt regelmäßig um ein bis zwei Prozent im Jahr. Die Unternehmen investierten in Deutschland, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und die Steuereinnahmen wuchsen beständig. Wollmershäuser und seine Kollegen entschieden sich nun – nach sieben Monaten schwarz-roter Koalition – nicht mehr auf die Rückkehr dieses Szenarios zu setzen.
Die Maßnahmen der Bundesregierung wie Sonderabschreibungen für Unternehmen und der 500 Milliarden Euro große Schuldentopf für die Infrastruktur würden kurzfristig zwar etwas helfen, aber sie reichten nicht aus, um die Produktionskapazitäten der deutschen Wirtschaft langfristig auszuweiten. Daher revidieren die Fachleute das erwartete Produktionspotenzial abrupt nach unten. Für 2027 liegt es 0,7 Prozentpunkte niedriger als noch im Herbst prognostiziert. Wollmershäuser, eigentlich eher ein Optimist, erklärt: „Die deutsche Wirtschaft verliert an Dynamik, weil das Arbeitskräftepotenzial, die Unternehmensinvestitionen und das Produktivitätswachstum zurückgehen.“
Diese Negativdynamik wirkt sich unmittelbar auch die aktuellen Wachstumsaussichten aus. Für das laufende Jahr erwartet das Ifo-Institut nur noch 0,1 Prozent Wirtschaftswachstum, 2026 und 2027 dann 0,8 und 1,1 Prozent, gestützt durch die schuldenfinanzierten staatlichen Investitionen. Die Werte für die kommenden Jahre sinken um jeweils einen halben Prozentpunkt gegenüber der vorherigen Prognose. In den Jahren danach droht wieder Stagnation.
Das Ifo-Institut ist mit seiner Prognose nicht allein. Auch die Forscher des Kiel Institut für Weltwirtschaft korrigieren ihre Prognose nach unten, auf nur noch 0,1 Prozent Wachstum für 2025 und ein Prozent für 2026. „Ohne wachstumsstärkende Reformen kann sich kein selbsttragender Aufschwung einstellen“, sagt der Kieler Konjunkturchef Stefan Kooths. Für die Unternehmen stünden hinter den Standortfaktoren weiterhin zu viele Fragezeichen, um sich hierzulande wieder stärker zu engagieren. Die Unternehmen, die sich heute von Personal trennten, sähen in absehbarer Zukunft keine Chancen auf Besserung. „Das ist eine Misstrauenserklärung an den Standort Deutschland“, so Kooths.
Das Vertrauen in die Reformfähigkeit wird erschüttert
Die schwarz-rote Regierung hatte sich eigentlich auf die Fahnen geschrieben, genau dieses Misstrauen zu durchbrechen. Untätigkeit kann man ihr auch nicht vorwerfen. Am Donnerstag kündigten Union und SPD nach ihrem inzwischen siebten Koalitionsausschuss an, das Infrastruktur-Zukunftsgesetz am 17. Dezember durchs Kabinett zu bringen. Es soll sicherstellen, dass Straßen- und Schienenprojekte schneller realisiert werden. Doch in den Unternehmen und unter Ökonomen werden diese Maßnahmen als zu kleinteilig angesehen. Zudem gehen zahlreiche Reformen der Koalition aus ihrer Sicht in die falsche Richtung, etwa das Rentenpaket, die Senkung der Gastrosteuer und die Erhöhung der Pendlerpauschale. All das bezeichnen die meisten Ökonomen als teuer und ökonomisch wirkungslos bis kontraproduktiv. Der von der Koalition angekündigte Reformherbst sei zwar nicht ausgefallen, konstatiert Ifo-Präsident Clemens Fuest. „Aber das Schlimme ist: Die Reformen, die stattgefunden haben, steuern mehrheitlich in die falsche Richtung.“
Das Vertrauen in die Reformfähigkeit wird erschüttert durch die ständigen Streitereien unter den Koalitionspartnern und innerhalb der Regierungsparteien. Mal werden sie offen ausgetragen wie beim Rentenpaket, mal sind es eher versteckte Spitzen, die zeigen, wie angespannt die Atmosphäre ist.
Sorgen in der Union über wirtschaftliche Entwicklung
Am Donnerstag wird die Merz’sche Optimismusoffensive getrübt von Sticheleien der SPD-Seite gegen Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU). Es sei wichtig, dass die Regierung beim Industriestrompreis und bei der Kraftwerksstrategie vorankomme, sagt Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD). „Wir unterstützen die Wirtschaftsministerin sehr, dass sie hier auch Druck in Richtung EU-Kommission macht.“ Die Latte noch höher legt Klingbeil. Man müsse „gucken, wie man bestimmte Module auch koppeln kann“, sagt er mit Blick auf die Entlastung der energieintensiven Industrie.
Hintergrund ist, dass Unternehmen nach der bisherigen Planung entweder den Industriestrompreis oder ein anderes Instrument, die Strompreiskompensation, in Anspruch nehmen können. Im Wirtschaftsministerium sah man zuletzt wenig Chancen, dass die EU-Kommission es erlaubt, dass Unternehmen beide Subventionen gleichzeitig in Anspruch nehmen können. Die „Unterstützung“ der SPD-Ministerin dürfte im Wirtschaftsministerium daher in erster Linie als Kritik ankommen.
Abseits der Kameras ist zumindest in Unionskreisen sehr wohl eine wachsende Sorge über die wirtschaftliche Entwicklung zu spüren. Eine Grafik des Ifo-Instituts, die den Rückgang der privaten Investitionen bei gleichzeitigem Anstieg des Staatskonsums zeigt, hat viele dort aufgeschreckt. Auch die jüngste Prognose des Sachverständigenrats fiel für die Koalition wenig schmeichelhaft aus: Nur 0,3 Prozent Wirtschaftswachstum soll 2026 nach den Berechnungen des Beratergremiums aus den mehr als 180 Milliarden Euro neuen Schulden für die Infrastruktur und die Verteidigung kommen – bei insgesamt überschaubaren 0,9 Prozent Wachstum. Damit hätte die Schuldenoffensive keine größere Wirkung als der sogenannte Feiertagseffekt: Weil 2026 viele Feiertage aufs Wochenende fallen, soll die Wirtschaft ebenfalls um 0,3 Prozent wachsen.
Inwieweit trägt die Bevölkerung die Reformen mit?
Was getan werden muss, liegt in den Augen der Wirtschaftsforscher aus München und Kiel auf der Hand: beim Bürokratieabbau noch viel radikaler vorgehen, dafür sorgen, dass aus Innovationen aus Deutschland auch Produkte „Made in Germany“ werden, den Menschen stärkere Anreize geben, mehr und im Alter länger zu arbeiten. Ifo-Präsident Fuest formuliert es so: Die Bundesregierung müsse einen „Frühling der Reformen“ in Gang setzen.
Eine offene Frage bleibt, inwiefern umfassende Wirtschaftsreformen, die erst einmal auch finanzielle Einschnitte bedeuten würden, von einer Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen würden. Eine Allensbach-Studie vor wenigen Wochen weckt Zweifel daran. Strukturell gelten vor allem ältere Wähler als weniger reformfreudig. Und die Alterung schreitet voran. Schon 2035 wird in Deutschland ein Viertel der Bevölkerung 67 Jahre und älter sein, teilte das Statistische Bundesamt auf Grundlage einer Bevölkerungsvorausberechnung mit. Die Babyboomer-Generation befindet sich im Übergang in den Ruhestand: Die Zahl der Menschen im Rentenalter steige bis 2038 um mindestens 3,8 Millionen – die Zahl der Menschen im Erwerbsalter sinke bis 2070 um mindestens vier Millionen.