Sayaka Murata: Eintopf mit Menschenhack
Eintopf mit Menschenhack – Seite 1
Wie wird eine Party zum Erfolg? Möchte man Gäste über Kulturen und
Generationen hinweg unterhalten, bleiben als gemeinsamer Nenner noch zwei
Dinge: Zwischenmenschlichkeit und Snacks. Im neuen Erzählband Zeremonie des Lebens der japanischen
Schriftstellerin Sayaka Murata ist für beides gesorgt. In der titelgebenden Geschichte läuft es folgendermaßen ab: Stirbt eine Person, wird ihr
Körper zu einem mehrgängigen Festmahl verarbeitet. Und läuft die Feier
besonders gut, finden Paare zueinander, gehen vor die Tür und werden auf
offener Straße miteinander intim.
Die Protagonistin Maho erinnert sich vage, dass das vor einigen
Jahren noch anders war und hadert. „Wieso denn? Gut essen, das Leben genießen
[…] mit Genuss verzehrt werden und neue Lebenskraft spenden. Was soll daran
schlecht sein?“, beruhigt sie ihr Arbeitskollege – und landet kurz darauf
selbst im Suppentopf. Er schmeckt, das muss Maho zugeben, köstlich.
Diese Erzählung veranschaulicht, nach welchem Grundrezept Murata
die zwölf Texte ihrer Sammlung aufbaut: eine weibliche Protagonistin,
Kind bis Greisin, wohnhaft im Großraum Tokio, meist in unspektakulärer
Anstellung. (Nur einmal erzählt ein Vorhang.) Dann ein
Grundbedürfnis – Nahrung, Liebe, Anerkennung – und Murata treibt die damit verbundenen
Ideen auf die Spitze. So werden Menschen mit Haut und Haaren verwertet, halten
Schulmädchen einen Businessman als Haustier. Oder es leben zwei unverheiratete
Frauen zusammen. Die Spanne der Tabubrüche ist so groß (oder lachhaft), dass
schnell klar wird: Die wichtigste Zutat ist der Zweifel an den
Gesellschaftsnormen. Manchmal äußert diesen die Hauptfigur, mal flüstern die
Leserinnen selbst ein kleines what the fuck zwischen die
Buchdeckel.
Es ist Muratas drittes Buch, das auf Deutsch erscheint. Übersetzt
wurde es, wie ihre beiden Romane auch, von Ursula Gräfe. Die 1979 in der
Präfektur Chiba geborene Autorin Sayaka Murata hat ein Dutzend Bücher veröffentlicht und
räumt seit fast 20 Jahren japanische Literaturpreise ab. Das brachte Geld und
Prestige, nicht aber das, woran Schreibende sich seit jeher klammern: eine
klare Tagesstruktur. Deshalb jobbte sie bis vor fünf Jahren in einem Minimarkt
in Tokio. Diese Beobachtungen flossen in Die Ladenhüterin ein, den Roman, der
sie 2018 international bekannt machte. Damit wollte sie, wie sie der New York
Times sagte, „zeigen, wie seltsam Menschen sind, die sich für normal und
gewöhnlich halten“.
Im Roman steht Keiko vor der kniffligen Entscheidung, eine Familie
zu gründen oder Karriere zu machen. Als chronischer Sonderling entscheidet sie
sich für nichts von beidem. Stattdessen kassiert und kundenbetreut sie sich
durch ihre besten Jahre, ohne Ansprüche und Geldsorgen. Internet-Millennials
empfahlen das Buch wie verrückt: endlich eine erfrischende Alternative zum
Suburbia-Horror und Girlboss-Kapitalismus!
War Die Ladenhüterin so klinisch wie der Minimarkt selbst,
bleibt im Nachfolger Das Seidenraupenzimmer nichts und niemand unberührt.
Durch die darin erzählte Lebensgeschichte einer Frau ziehen sich Inzest,
Missbrauch und, schon wieder, Kannibalismus. Bewegt man sich ein wenig durch
digitale Popkultur, stellt man fest, dass letzterer nicht nur eine individuelle
Fixierung der Autorin ist.
Es lohnt sich unbedingt vorbeizuschauen
Der Hashtag „disturbingbooks“ hat auf TikTok knapp 30 Millionen
Aufrufe. Darunter halten junge Menschen verstörende Bücher in die Kamera, also
unbedingte Empfehlungen. Auf den Stapeln landen beispielsweise Ottessa Moshfegh
(besessen von Körperflüssigkeiten), Mariana Enríquez (besessen von Verwesung),
Hype-Bücher von begrenzter literarischer Qualität und hohem Schockwert, und eben
Sayaka Murata. Auffällig oft sind es Videos von Frauen über Bücher von Frauen,
die nicht unbedingt primär feministisch, aber doch im Ekel als Element ihres
Schreibens geeint sind. Weil es sie langweilt, weibliche Figuren als reine
Lustobjekte darzustellen. Weil sie es satthaben, auf lieblich dekorierten
Büchertischen für „Frauenliteratur“ zu landen. Vielleicht auch als Warnung für
Männer: Wenn ihr uns nicht ernst nehmt, fressen wir euch auf.
Mit Zeremonie des Lebens beweist Murata, dass Ekel ein solider
Gradmesser für Normen, Geschlechter- und Klassenverhältnisse ist – vor allem
beim Essen, aber es geht noch weiter. Eine Geschichte spielt in einem
Paralleluniversum, in dem Menschen freiwillig und Fair Trade als
Rohstoff genutzt werden. Es sei „pietätloser, einen Verstorbenen einfach zu entsorgen,
wenn so viel von ihm wiederverwendbar ist“, meint die Hauptfigur, während ihr
Verlobter ihren Pullover aus Menschenhaar kaum ansehen kann. Muratas Analogien
sind alles andere als subtil, doch die Figuren zaudern in ihnen so glaubhaft,
dass man sie ihr verzeiht. Der Verlobte zum Beispiel ändert seine Haltung erst,
als sein Vater ihm ein besonderes Erbe vermacht. Leserinnen müssen sich kurz
schütteln und dann selbst ein Urteil fällen.
In Muratas besten Texten erkennt man ihre ausgeprägte Schwäche für
die Freaks und Außenseiter jeder Gesellschaft. Liest man sie, kommt man
vielleicht gar nicht mehr zum Verdammen ihrer Entscheidungen; man ist unter
Umständen viel zu beschäftigt damit, vor Rührung und Seltsamkeit beduselt vom
Sofa zu rutschen. Das kann etwa nach Puzzle passieren. Darin geht es um
Sanae, die eher Tokios Büroquadern als ihren Mitmenschen ähnelt: „Ihre Wangen
und ihre Stirn hatten eine derart einheitliche Farbe, dass sie argwöhnte, ihr
Inneres müsse aus dem gleichen Stoff sein wie ihr Äußeres. Der glitzernde
Lidschatten gab ihrem Gesicht umso mehr den Anschein von an diesen Stellen
überstrichenem weißem Beton.“ Doch sie liebt diese weichen, heißen Körper und
badet in den Menschenmassen stickiger U-Bahn-Waggons. Ihre Arbeitskolleginnen
bewundern ihren Sanftmut und ihre Geduld – bis sie auch einen zitternden,
schwitzenden Stalker in ihre Umarmung schließt. Schriebe Murata eine Einladung für eine Feier, würde darauf
vielleicht etwas stehen wie: „Kommt für das Gemetzel, bleibt für die Zartheit.“
Sayaka Murata: „Zeremonie des Lebens“. A. d. Japanischen v. Ursula Gräfe; Aufbau Verlag, Berlin 2022; 286 Seiten, 22,– €