Ruth Beckermanns „Favoriten“: Klassengesellschaft südlich jener Hofburg

Schon wieder eine Langzeit-Doku über eine Schulklasse? Bei aller Relevanz von Bildung und trotz des hohen Unterhaltungswerts vor der Kamera nachdenkender oder auch herumalbernder Kinder – nach Sein und Haben oder Herr Bachmann und seine Klasse (um nur zwei der herausragendsten Filme dieses Sujets zu nennen) stellt sich die Frage, ob es einen Film wie Favoriten nun wirklich auch noch braucht. „Ja“, könnten Cineasten antworten, denn die 1952 in Wien geborene Regisseurin Ruth Beckermann steht für einen nüchternen Blick auf potenziell schmerzhafte Themen. In ihren Filmen sprach sie mit ehemaligen Wehrmachtssoldaten und jüdischen Tuchhändlern. Sie porträtierte Kaiserin Sissi und streikende Arbeiter. Gerade erst hat sie Zwischen uns Gott produziert, in dem die junge Regisseurin Rebecca Hirneise sich auf sehr mutige Weise mit ihrem streng christlich geprägten Aufwachsen in einer württembergischen Kleinstadt auseinandersetzt.

Nun also: Favoriten, benannt nach jenem Stadtbezirk, dem man am Wiener Hauptbahnhof gemeinhin den Rücken kehrt, wenn man sich Richtung Norden begibt, zur Hofburg und zum Prater. Das südlich gelegene Favoriten erinnert auch architektonisch eher ans Ruhrgebiet; hier ist der Ausländeranteil hoch, das Einkommen schwach. Auf die Volksschule Quellenstraße 142 gehen über 800 Kinder, in den ersten Klassen sind die Deutschkenntnisse überwiegend mangelhaft. Hier unterrichtet Ilkay Idiskut als eine der wenigen Lehrkräfte, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Sie wurde 1989 in der Türkei geboren und wuchs in Wien auf. Der Film beginnt in ihrer zweiten Klasse, mitten im Unterricht. Popmusik läuft, Idiskut tanzt vor, die Kinder machen mit. Beim Freestyle greift sich ein Siebenjähriger kurz in den Schritt, legt die Hand an den Kopf und beendet die ungelenk imitierte Macho-Pose mit einem halb verschämten Grinsen. Recht entspannt vertieft sich dann die Klasse in ihre Matheaufgaben oder in das Aufmalen von Urlaubszielen. Irgendwann beugt sich ein Mädchen verdruckst zu einem anderen und flüstert: „Sprich nicht Türkisch, sondern Deutsch. Das ist nicht erlaubt.“

Von Türkisch zu Turnübungen

Zunächst vermittelt sich hier noch der Eindruck, dass die Vereinbarung, sich in der Klasse nur auf Deutsch zu verständigen, die Kinder eher hemmt. Sie mögen zu Hause Türkisch, Arabisch, Russisch oder Tschetschenisch sprechen, auf Deutsch tun sich viele schwer. Umso wichtiger erscheint die Körpersprache – und gemeinsame körperliche Aktivitäten. Wenn Idiskut mit ihnen zum Körperteil-Blues tanzt oder in der Turnhalle bei einer geführten Meditation auf dem Boden liegt, vermitteln sich Worte und deren Bedeutung offenbar nachhaltiger als durch das frontale Einpauken von Vokabeln und Grammatik.

Die Regierung hatte anderes im Sinn und etablierte 2019, unter Führung der schwarzblauen Koalition, den Mika-D-Test. Der teilt Kinder vor der Einschulung in drei Kompetenzgruppen ein: Wer „ausreichend“ die deutsche Sprache beherrscht, kann dem Regelunterricht folgen. Bei „mangelhaft“ erhält man sechs Stunden Förderunterricht pro Woche (der wegen Personalmangels oft entfällt). Die „Unzureichenden“ werden separiert und bilden eine sogenannte Deutschförderklasse. Vor allem diese Deutschförderklassen (wie auch die vergleichbaren „Willkommensklassen“ in Deutschland) werden seit Jahren scharf kritisiert.

„Dort sitzen 20 bis 25 Kinder drin, die ganz unterschiedliche Niveaus haben“, erzählt Ilkay Idiskut im Gespräch mit dem Freitag. „Manche sind nicht alphabetisiert, waren vorher nur mal kurz oder gar nicht in einer Schule. Und dafür gibt es eine einzige Lehrkraft, die dann die ganze Last auf ihren Schultern trägt und diese Kinder weiterbringen soll.“

Unterstützung wird gebraucht

Viel sinnvoller wäre es, wenn Kinder mit Förderbedarf ein paar Stunden extra Deutschunterricht hätten und ansonsten den Regelunterricht in ihrer Klasse besuchen könnten. Dort müsste es allerdings zusätzlich zwei, drei unterstützende Kräfte pro Klasse geben. „Da könnte man Studierende mit ins Boot holen,“ sagt Idiskut. „Dafür müsste man nicht auf Lehramt studieren, gerade im Volksschulbereich reicht es ja, wenn die Kinder in den Grundlagen von Deutsch und Mathematik unterstützt werden können. Leider fehlt derzeit die gesetzliche Grundlage, Studierende dafür anzustellen.“

Idiskuts Klasse in Favoriten lässt die Sprachthematik im Laufe des dritten Schuljahres eher hinter sich. Mit zunehmender Eloquenz steigert sich auch das Selbstbewusstsein, die strukturellen Probleme erzählen sich nebenbei. Im Fokus steht der oftmals unspektakuläre Alltag. Dabei wirft der Film auch Streiflichter auf den Religionsunterricht. Nach einem Besuch in einer Moschee tönt ein Junge im Unterricht, dass dort nur Muslime beten dürften. Idiskut fragt ihn ruhig, aber bestimmt: „Warum sagst du das? Bist du der Chef von der Moschee?“ Auch beim Besuch im Stephansdom ist die Kamera mit dabei und fängt ein, wie sauertöpfisch der Pfarrer das Gesicht verzieht, als er erfährt, dass in dieser Klasse zwar ein paar Kinder orthodox seien, aber keines römisch-katholisch.

In einer der wenigen Szenen, in denen Beckermann offensichtlich in das Geschehen eingreift, verteilt sie Smartphones an die Klasse, damit die Kinder ihren eigenen Alltag filmen können. Warum nur wenig von diesem Material im Film landete, bleibt Spekulation. Bei der Frage, warum ein Vater sein Kind lieber in der Türkei zur Schule schicken würde, wird die Antwort weggeschnitten. Die finale Zeugnisausgabe, mit Tränen und Enttäuschungen, wird nicht durch wohlfeile Relativierungen von Schulnoten gemildert. All das macht Favoriten nicht zu einem „Feelgoodmovie“, der in Gefahr geriete, mit dem Fokus auf eine besonders charismatische Lehrkraft den Blick auf ein defizitäres Schulsystem zu verstellen. Hier steht mit Ilkay Idiskut eine engagierte, aber eben auch „ganz normale“ Lehrerin mit bewundernswerter Geduld und Konsequenz vor ihren „ganz normalen“ Kindern und tut ihr Bestes, unter Umständen, die sich offenbar nicht wirklich verbessern, trotz aller Öffentlichkeit, die so ein Film für den Moment generiert.

„Ich hatte vor dem Sommer ein Interview mit unserem Bildungsminister“, erzählt Idiskut im Telefoninterview. „Er sagt, er sei sich der Probleme bewusst. Er geht wohl jede Woche in eine Schule und besucht Klassen. Aber gerade in Bezirken, wo es viele Menschen gibt, denen es finanziell schlecht geht, in denen vor allem Migranten wohnen, wird weiter eher weggeschaut. Die Medien stellen diese Bezirke nur als Problem dar und die Politik tut höchstens so, als würde sie sich der Probleme annehmen. Es wird nur oberflächlich geschaut, wo man Ressourcen hingeben kann, und dann gibt es tolle Statistiken, die zeigen sollen, wie viel Geld in die Bildung fließt. Aber das spüren wir alles nicht. In unserem Beruf haben wir das Gefühl, dass es Jahr für Jahr anstrengender wird und dass die Ressourcen immer weniger werden.“ Spätestens hier beantwortet sich die eingangs gestellte Frage noch einmal in aller Klarheit. Ja, es braucht Filme wie Favoriten, immer wieder. Aus politischen Gründen, aber auch, weil es über diese drei Schuljahre von Beid, Hafsa, Melissa, Manessa, Mohammad und all die anderen Kinder ihrer Klasse gar keinen zweiten Film geben kann.

Eingebetteter Medieninhalt

Favoriten Ruth Beckermann Österreich 2024, 118 Minuten