Russland stiftet Ukrainer zu Sabotage an: Tausend Dollar für jedes ein brennendes Auto

Beinahe den ganzen Sommer hat Anatolij autoschraubend im Hof verbracht. Er war fast mit allen Arbeiten fertig, als er eines Tages Mitte September gegen drei Uhr morgens draußen mächtigen Lärm hörte. Ein Nachbar klingelte und berichtete aufgeregt, was eben passiert war. Anatolij, der schon sein halbes Leben hier im obersten Stock einer Kiewer Plattenbausiedlung östlich des Dnipro wohnt, konnte es kaum fassen, als ihm der Nachbar ein kurz zuvor aufgenommenes Handyvideo unter die Nase hielt: Sein Auto, das er hier seit Monaten mühevoll für die Bergung verletzter Soldaten an der Front ausgerüstet hatte, war in Flammen aufgegangen.

Jetzt steht der 63 Jahre alte Mann, der nur seinen Vornamen nennen will, vor den buchstäblichen Trümmern seiner Arbeit. Motorraum und Cockpit sind völlig zerstört, die meisten Scheiben zersprungen, nur am Heck sind noch die Tarnlackierung und das Logo für den medizinischen Einsatz zu erkennen.

Anatolij hebt die Hände und lässt sie wieder fallen. „Ich habe erlebt, wie schnell Autos an der Front von Drohnen zerstört werden“, sagt er. „Aber hier, in einem ruhigen Wohnviertel?“ Der Nachbar berichtete, wie er zwei Gestalten davonrennen gesehen habe. Polizei und Feuerwehr seien schnell dagewesen, und drei Tage später hätten die Ermittler auch zwei Verdächtige, also die mutmaßlichen Brandstifter, erwischt.

Viele Ukrainer spenden direkt an einzelne Brigaden

Ihm gehe es gar nicht um Zeit und Geld, die er in das Auto gesteckt habe, sagt er. „Es ist schade, dass es nun nicht mehr genutzt werden kann.“ Anatolij war lange selbst Soldat. Er hat in Afghanistan gekämpft und seit den russischen Übergriffen 2014 auch in der Ostukraine, als Freiwilliger in einem medizinischen Bataillon. Helfen wollte er auch nach dem russischen Überfall 2022, doch die ukrainische Armee lässt Männer, die älter als 60 Jahre sind, nicht mehr in ihre Reihen.

Etwas tun wollte er trotzdem. Für umgerechnet 2000 Dollar beschaffte er sich einen Nissan Patrol, Baujahr 1993, und baute ihn so um, dass damit verletzte Soldaten direkt von der Front weg zu einer Erste-Hilfe-Station transportiert werden können. Weitere 3000 Dollar kostete ihn das, inklusive neuer Reifen, Notfallkoffer, Trage, Tropf. Mitte September war Anatolij so weit, das Fahrzeug den Truppen übergeben zu können.

So machen das viele Menschen in der Ukraine. Sie sammeln Spenden oder finanzieren selbst Ausrüstung für die Armee oder gleich direkt für einzelne Brigaden, mit denen sie Kontakt haben. So können sie sicher sein, dass ihre Hilfe ankommt, wo sie gebraucht wird, und nicht in einem ineffizienten und korrupten Staatsapparat versickert, dem viele nach wie vor nicht über den Weg trauen. Viele seiner Nachbarn nickten Anatolij anerkennend zu, wenn sie ihn wieder schrauben sahen, erzählt er. Jetzt bedauerten sie ihn und fragten: „Wer macht so was und warum?“

Jugendliche werden bei Telegram angeworben

Eine Antwort darauf gibt es auf der anderen Seite des Dnipro, im Zentrum Kiews. In einem kleinen Raum eines Nebengebäudes der Zentrale des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU sitzt Nikita, ein schlaksiger 16 Jahre alter Junge, der seinen richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Er trägt teure Lederslipper, eine helle Jeans und ein Marken-Poloshirt, und er schaut verlegen auf den Boden. Seine nicht minder elegant gekleidete Mutter sitzt ihm gegenüber und guckt ausdruckslos an die Wand.

Vor vier Wochen nahmen Ermittler ihren Sohn fest. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt ihn, zwei Fahrzeuge von Militärangehörigen angezündet und damit unbrauchbar gemacht zu haben. Nikita ist seitdem im Hausarrest, darf aber weiter die Schule besuchen, bis sein Prozess beginnt. Er hat die Vorwürfe gestanden und kooperiert. Dass er mit der Presse redet, ist mutmaßlich auch der Hoffnung auf Strafrabatt geschuldet.

Bereut seine Tat: Der 16 Jahre alte Nikita hat Fahrzeuge von Militärangehörigen angezündet, um schnell zu Geld zu kommen.
Bereut seine Tat: Der 16 Jahre alte Nikita hat Fahrzeuge von Militärangehörigen angezündet, um schnell zu Geld zu kommen.Yulia Serdyukova

Denn die Konsequenzen seiner Taten können drastisch sein. Laut ukrainischem Strafgesetzbuch wird „die Behinderung der Arbeit der Armee“ mit mindestens fünf Jahren Haft bestraft, und sollte die Tat als Sabotage der Streitkräfte gewertet werden, drohen gar bis zu 15 Jahren Gefängnis. „Ich war auf der Suche nach leicht verdientem Geld“, beginnt Nikita zögerlich zu erzählen. Auf Telegram habe er eine Werbung gesehen, mit der Menschen zwischen 16 und 55 Jahren gesucht wurden und die ihnen „schnelles Geld“ versprach.

Er habe sich dort gemeldet und sei daraufhin aufgefordert worden, zu einem anderen Messengerdienst zu wechseln. Dort sei der Auftraggeber dann schnell zur Sache gekommen. Er versprach tausend Dollar, wenn Nikita ein Auto mit schwarzem Kennzeichen, wie sie vom Militär genutzte Fahrzeuge haben, in Brand setze und Fotos sowie ein Video davon an ihn zurücksende. In das Video solle er zudem ein Schild mit Datum halten sowie einer gegen die ukrainischen Streitkräfte gerichteten Parole und gegen die Mobilisierung neuer Soldaten.

Das alles sei ihm schon komisch vorgekommen, sagt Nikita. Doch habe er nicht weiter darüber nachgedacht, sondern vor allem das Geld gesehen. „Dazu kam, dass der Druck machte“, erzählt er über den Auftraggeber. „Jede Stunde kam eine Nachricht und dann kamen auch Anrufe. ‚Mach es jetzt!‘, ‚Es ist ganz einfach!‘, ‚Niemand wird dich entdecken!‘“

Nikitas Familie ist selbst aus dem Donbass geflohen

Dann sei er losgezogen und habe im Hinterhof eines Wohnkomplexes einen Mercedes Minivan mit schwarzem Kennzeichen in Brand gesetzt, mit Grillanzünder, den er über die Frontscheibe kippte. Er schickte Fotos und Video inklusive der Botschaft gegen die Streitkräfte und bekam das Geld. „Das ging alles ganz einfach und schnell.“ Der Auftraggeber habe dann weitere Nachrichten geschickt. „Gut gemacht!“, „Weiter so!“, und Nikita steckte noch ein Auto in Brand.

Am nächsten Tag habe der Auftraggeber Fotos von den ausgebrannten Wracks verlangt. Doch als Nikita zurück zum Tatort kam, wurde er festgenommen. „Sehr blöde Sache“, sagt er nun auf die Frage, wie heute über seine Tat denkt. „Ich bedauere das sehr und würde es heute nicht mehr machen.“ Seine Mutter, die sich an einer Markenhandtasche auf ihren Knien festhält, sagt: „Ich bin schockiert, nichts als schockiert über so eine dumme Tat.“ Die Familie stammt selbst aus dem Donbass und floh von dort bereits vor zehn Jahren vor den Russen nach Kiew.

Für die ukrainischen Ermittler ist das alles keine Überraschung mehr. Seit dem Frühjahr häuften sich Fälle ausgebrannter Armeefahrzeuge und Manipulationen an öffentlicher Infrastruktur wie zerstörter Stellwerke und zerschnittener Kabel an Bahngleisen, sagt Andrij Nebytow, Chef der Kriminalpolizei bei der Nationalen Polizei der Ukraine. Schwerpunkte seien Großstädte wie Kiew, Charkiw, Dnipro und Odessa.

Verfolgte die Spur der Brandstifter: Andrij Nebytow in seinem Büro in Kiew.
Verfolgte die Spur der Brandstifter: Andrij Nebytow in seinem Büro in Kiew.Yulia Serdyukova

„Brandstiftung gab es zwar auch vorher“, sagt er in seinem Büro in Kiew. Doch diese Fälle hier hätten eines gemeinsam: Die Täter seien alle über das Internet angeworben worden. „Da haben wir uns das genauer angesehen.“ Der Cyberabteilung der Polizei sei schnell klar gewesen, dass die Spur nach Russland führt. „Danach haben wir alles darangesetzt, die Sache aufzuklären.“

Viele der „Beweisvideos“ der Täter hätten sie in russischen Medien wiedergefunden, sagt Nebytow. Vor allem auf Telegram-Kanälen hätten russische Militärblogger, die die Armee glorifizierten und den Krieg in der Ukraine rechtfertigten, das Material publiziert. Ziel sei es, der russischen Bevölkerung zu verdeutlichen, dass es in der Ukraine keine Stabilität gebe, sondern großen Widerstand vor allem gegen die Mobilisierung und dass der Krieg demzufolge der Befreiung und einer gerechten Sache diene.

Es gehe nicht um einen finanziellen Schaden, sondern darum, zu zeigen, „dass die Regierung die Kontrolle verloren hat und im ganzen Land Chaos herrscht“, ergänzt ein leitender Ermittler des Inlandsgeheimdienstes SBU, der sich als „Oleksandr“ vorstellt. Zudem sei die Hoffnung, dass diese Informationen über Russland auch im Westen Verbreitung finden. Dafür spreche die Häufung solcher Anschläge etwa vor dem Schweizer Friedensgipfel Mitte Juni. „Es sollte offensichtlich der Eindruck erzeugt werden, dass man in so ein Land einfach keine Waffen liefern darf“, sagt Oleksandr.

„Das ist staatlich organisierter Terrorismus“

Sein Haus überwacht inzwischen die Kommunikation auf Messengerdiensten und fand etwa über GPS-Daten heraus, wo die Täter operieren. Alle Spuren bisher führten entweder zu Gebäuden des russischen Inlandsgeheimdienst FSB oder des russischen Militärgeheimdienst GRU in verschiedenen Gebieten Russlands. „Wir kennen inzwischen konkrete Personen und haben Anklagen eingeleitet, aber die Verfolgung ist derzeit natürlich nicht möglich“, sagt Oleksandr. International zur Fahndung ausgeschrieben seien diese Leute dennoch. „Sie bringen Minderjährige dazu, Verbrechen zu begehen“, sagt er. „Das ist staatlich organisierter Terrorismus.“

Seine Truppe gehe jedem Fall akribisch nach. „Man muss das so früh wie möglich stoppen, sonst haben wir es bald mit Brandstiftung in Gebäuden, Sprengstoff und Toten zu tun.“ Die Arbeit erleichtere ihnen, dass sich immer mehr Ukrainer an die Ermittler wenden, die solche „Angebote“ über Messengerdienste erhalten. Bisweilen gehe man dann zum Schein drauf ein und finde so immer mehr über die von Russland finanzierten Auftraggeber heraus.

Die Polizei wiederum hat bis Mitte September landesweit 200 solcher Sabotagefälle gezählt, davon seien inzwischen 131 aufgeklärt und 108 Personen festgenommen worden – 77 Männer, fünf Frauen und 26 Minderjährige, berichtet Chefkriminalist Nebytow nicht ohne Stolz. Die meisten der erwachsenen Täter seien bereits wegen Drogen-, Spiel- und Diebstahlsdelikten bekannt. „Die Russen suchen gezielt Leute aus, die schnell Geld brauchen.“ Es gehe immer nur darum; kein einziger Täter habe bisher eine politische Überzeugung als Motiv offenbart.

Das Geld ist meistens ohnehin weg

Schockiert sei er, dass nicht mal vor Minderjährigen haltgemacht werde; das jüngste „Täter-Opfer“ sei 13 Jahre alt. Sie würden meist besonders perfide gelobt, in ihrem Selbstwert gestärkt und mit dem Aufbau einer persönlichen Beziehung unter Druck gesetzt. Gäben sie dann während des Chats persönliche oder gar intime Details preis, würden diese anschließend von den Auftraggebern gegen sie verwendet. „Das passiert immer wieder auch Jugendlichen aus gutem Elternhaus“, sagt Nebytow. „Ihnen ist oft gar nicht bewusst, was sie da eigentlich tun.“

Zudem berichteten mehrere der Festgenommenen, um ihren „Lohn“ betrogen worden zu sein. „Sie wurden zu weiteren Taten angestachelt, bevor sie Geld erhalten sollten“, sagt Nebytow. Manche seien auch regelrecht erpresst worden: Wenn sie nicht noch ein Auto anzündeten, werde man die ukrainische Polizei informieren. Polizei und Regierung versuchen nun, die Bevölkerung über diese ganz eigene Art der psychologischen Kriegsführung aufzuklären. Sie schalten Anzeigen, sind in sozialen Netzwerken wie Tiktok und Instagram unterwegs und erklären, was und wer hinter solchen „Angeboten“ stecken kann, dass die Aufklärungsrate hoch und das Geld am Ende meistens ohnehin weg sei.

So wie bei Nikita, dessen 2000 Dollar, die er mit seinen Taten „verdiente“, die Polizei eingezogen hat. Er wartet nach wie vor auf seinen Prozess, bisher hat es noch keine Urteile in der Sache gegeben. Straflos werde keiner der Täter bleiben, sagt Nebytow. Allerdings kämen für minderjährige Ersttäter auch Bewährungsstrafen in Betracht. „Eigentlich dürften wir gar nicht unsere Kinder verurteilen“, sagt Oleksandr. „Sondern die Russen, die sie für ihre perfiden Zwecke missbrauchen.“

Auf der anderen Seite des Dnipro wiederum hat Anatolij schon einen neuen Plan gefasst. Er hat wieder einen Gebrauchten in Aussicht, diesmal einen geländegängigen Mitsubishi. Solche Autos sind wegen des Krieges sehr gefragt und entsprechend teuer, aber einer seiner Nachbarn, ein junger Blogger, hat einen Spendenaufruf im Internet gestartet. Bereits nach drei Tagen war ein Fünftel der umgerechnet rund 8000 Dollar zusammen, die er für Kauf und Umbau brauchen wird.

Anatolij schaut jetzt zuversichtlich. Wenn das Geld zusammenkommt, hat er wieder eine Aufgabe. Seit Kriegsbeginn lebt er allein in Kiew; seine Frau ist mit der Tochter und zwei Enkelinnen nach Iwano-Frankiwsk in die Westukraine geflohen. Jetzt aber muss er erst mal das Wrack beseitigen. Eine Versicherung hatte er für das Auto nicht. Was er wohl den Brandstiftern sagen würde, wenn er ihnen gegenüberstünde? Anatolij überlegt eine Weile, dann sagt er: „Ich würde ihnen einfach stumm in die Augen schauen.“

Source: faz.net