Russland | Mit ernsthaften Ukraine-Verhandlungen rechnet Moskau frühestens 2026

Die russische Armee ist dabei, die Stadt Pokrowsk einzuschließen, sie rückt auf Kramatorsk und Slawjansk im Donbass vor. Unklar ist, ob diese Gebiete erobert werden sollen, um sie bei möglichen Verhandlungen als Tauschobjekt anzubieten


Motocross-Einlage beim Manöver „Sapad 2025“ mit Soldaten aus Russland und Belarus

Foto: Sergey Bobylev/ Imago Images


Der Auftritt Wladimir Putins auf einem Militärgelände bei Nischni Nowgorod am 16. September war ein Signal für die eigene Bevölkerung. Der Staatschef und Oberkommandierende erschien in einfacher Uniform ohne Rangabzeichen. Auf den Brusttaschen war nur sein Name zu lesen und die Dienstbezeichnung „Präsident RF“, die Abkürzung für Russische Föderation. In dieser Montur schüttelte Putin Soldaten die Hand und ließ sich neue Truppentransporter, Drohnen und Motorräder für die Front vom Typ „Bulldogge“ zeigen.

Der Präsident gab den ersten Soldaten des Landes. Anlass war der Abschluss von „Sapad 2025“, des fünftägigen, zusammen mit Belarus abgehaltenen Manövers, an dem gut 100.000 Soldaten teilgenommen hatten. Simuliert wurde die Abwehr einer Invasion aus dem Westen. Putins Botschaft danach vor Militärs war eindeutig: Der Krieg in der Ukraine gehe weiter, mit einem schnellen Ende sei nicht zu rechnen.

Tags darauf erklärte Kommentator Michail Rostowskij im Massenblatt Komsomolskij Komsomolez seinen Lesern, warum ein Arrangement mit den USA über den Ukraine-Konflikt weiter ausstehe. „Es ist schlecht, dass Trump keinen Druck auf Kiew und dessen Unterstützer ausübt, entweder weil er nicht kann oder weil er nicht will. Darum kann er auch nicht garantieren, dass erfüllt wird, was beim Alaska-Treffen vereinbart wurde.“ Folglich sei an eine „friedliche Regelung“ in der Ukraine auf absehbare Zeit nicht zu denken.

Staats-TV bringt Frontberichte

Was das militärisch bedeutet, verkündet am gleichen Tag Generalstabschef Gennadi Gerassimow mit seiner Bassstimme, umrahmt von Tarnnetzen in einem Stab nahe der Stadt Pokrowsk, die in Russland nach ihrer einstigen sowjetischen Bezeichnung Krasnoarmeijsk genannt wird. Die Armee sei dabei, Pokrowsk einzuschließen, so Gerassimow, ebenso die Stadt Kupjansk, 115 Kilometer südöstlich von Charkiw. Sie rücke auf Kramatorsk und Slawjansk im Donbass vor.

Wer sich dieser Tage in den neuen geräuscharmen Moskauer Elektrobussen fortbewegt oder in den gut besetzten Cafés Gesprächen am Nachbartisch zuhört, stellt fest, dass der Krieg kein Thema ist. Moskauer, die auf den in die Tiefe führenden Rolltreppen der Metro auf ihren chinesischen Smartphones scrollen, schauen sich alles Mögliche an, nur nichts über den Krieg.

Auffällig ist, dass die Zahl derer wächst, die durchblicken lassen, sie sähen sich Nachrichten des staatlichen Fernsehens nicht mehr an, wegen der monotonen Militärthemen. Allabendlich gibt es Frontberichte von Artillerie- und Drohnen-Einsätzen. Das Staats-TV preist die „Befreiung“ von nur noch aus Ruinen bestehenden ukrainischen Ortschaften.

Dabei bleibt offen, ob Russland sie eingliedern oder bei Verhandlungen gegen andere Territorien austauschen will. Im Umfeld der Führung ist davon die Rede, die Streitkräfte hätten die Aufgabe, durch weiteres Zurückdrängen des Gegners Voraussetzungen für Verhandlungen 2026 zu schaffen. Binnen Jahresfrist, so Militäranalytiker, werde die Ukraine ernsthafte Probleme mit ihrem Personal an der Front haben.

Dass der Krieg nach mehr als dreieinhalb Jahren auch für Russland seinen Preis hat, räumte Putin öffentlich ein, als er am 15. September im Kreml Amtsträger zu Wirtschaftsfragen traf, Premier Michail Mischustin, die Minister für Wirtschaft und Finanzen wie die Chefin der Zentralbank. Der Präsident verlangte, es sei, „das nötige Wachstumstempo zu garantieren“ und die Inflation zu bekämpfen, die im Juli offiziell bei 8,8 Prozent lag.

Sibirien, das neue Zentrum Russlands?

Die Wirtschaft wuchs in den ersten sieben Monaten 2025 um 1,1 Prozent. „Ist es das, was wir wollen? Können wir die Aufgabe lösen, die wir uns gestellt haben?“, fragte der Präsident in die Runde. Stagnation ließe sich abwehren durch den Kampf gegen die Schattenwirtschaft und eine „gesunde Konkurrenz wie transparente Bedingungen“ zwischen Unternehmern. Zuvor hatte die Zentralbank den Leitzins von 18 auf 17 Prozent gesenkt. In Unternehmerkreisen gilt dies als unzureichend, um Investitionen zu stimulieren.

Für riskante Pläne wirbt der Ehrenvorsitzende des Rates für Verteidigungs- und Außenpolitik, Sergej Karaganow. Er hatte einst unter Boris Jelzin einen Ruf als liberaler Vordenker genossen und galt lange als Anhänger einer Westorientierung Russlands. In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Russia in Global Affairs aber orakelt Karaganow über „Enthauptungsschläge gegen Großbritannien und sogar Frankreich“ für den Fall, dass diese Länder Soldaten in die Ukraine entsenden sollten.

Und mit der gleichen Verve, die er nach 1990 einer Annäherung an den Westen angedeihen ließ, schreibt Karaganow nun, man müsse „das Offensichtliche anerkennen: Die mehr als 300-jährige europäische Reise Russlands ist zu Ende“. Als Heilmittel gegen „Westlertum“ empfehle er eine „alternativlose Sibirisierung“ Russlands. Der Staat solle seine Ressourcen dafür verwenden, „dass das Leben in Sibirien komfortabler wird als im europäischen Russland“. Zudem, so sein Vorschlag, müssten „Sibiriaken gemeinsam mit Veteranen der Speziellen Militäroperation in die Verwaltungsschicht des Landes aufrücken“. Sie seien wenig empfänglich für den „zersetzenden und schädlichen Einfluss Europas, des Westens“.

Skurril wirkende Vorstellungen? Sibirien zum neuen Zentrum Russlands zu machen, das genießt das Wohlwollen des Kremls und korrespondiert mit der strategischen Ausrichtung auf ein dauerhaftes Bündnis mit China.