Russische Provokation? Wie ukrainische Kriegsbeobachter uff Drohnen weiterführend Europa blicken
Keine Trümmer, keine Piloten, unklare Herkunft: Den Theorien zu russischen Drohnen über Europas Flughäfen und Militärbasen mangelt es an Beweisen – und an Logik. Regierungskritische Stimmen in der Ukraine haben einen anderen Verdacht
Wem gehört wohl diese Drohne?
Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images
Es herrscht Drohnenalarm über Europa. In verschiedenen Teilen der Europäischen Union werden seit mehreren Wochen Drohnen unbekannter Herkunft gesichtet, die – so die Mutmaßung – NATO-Militäreinrichtungen ausspionieren oder die Arbeit von Flughäfen behindern sollen. Bis zu drei Dutzend Drohnen sollen seitdem quer durch die Union von Belgien und Dänemark über Deutschland bis ins Baltikum gesichtet worden sein. Mal soll es sich um Flugzeugdrohnen von bis zu einem Meter Flügelspannweite gehandelt haben, in anderen Fällen um kleinere Copter.
Kaum gesichtet, war die offizielle Position in Brüssel und den meisten europäischen Hauptstädten klar: Es müssen die Russen sein. Wer sonst hätte Interesse daran, NATO-Basen zu überfliegen, die europäische Öffentlichkeit in Aufruhr zu versetzen und die Arbeit von Flughäfen zu behindern, so der Vorwurf.
Zugleich bleiben die Anschuldigungen nach dem Motto „Wer denn sonst“ derzeit derart anhaltlos und ohne Beweise – seien es nachvollziehbare Tracking-Aufnahmen, Drohnenteile oder festgenommene Drohnenpiloten –, dass selbst US-Verbündete sowie unabhängige Militärexperten extrem skeptisch sind. In manchen Fällen halten die aus Brüssel verlautbarten Theorien über Herkunft und Einsatz der Drohnen schon aus rein technischer Perspektive keiner Kritik stand.
Die Theorie von russischen Containerschiffen in Nord- und Ostsee
Eine der gängigen Versionen ist, dass von russischen Containerschiffen in der Ost- oder Nordsee „Mutter-Drohnen“ gestartet worden seien, die in Richtung EU-Festland flogen und darüber kleinere Copter abwarfen, welche wiederum die eigentliche Aufklärungs- und Sabotagearbeit über der zivilen und militärischen Infrastruktur der EU leisteten. Abseits des medialen „Wow“-Effektes hält diese Version aus rein technischer Perspektive keiner Kritik stand. „Mutter-Drohnen“ sind aus dem Ukrainekrieg bekannt und können tatsächlich mehrere Copter unter ihren Flügeln auf weite Entfernungen für einen Abwurf tragen, jedoch sind sie nicht in der Lage, diese Copter wieder aufzusammeln.
Ebenfalls können die „Mutter-Drohnen“ selbst bei derart weiten Entfernungen von mehreren Hundert Kilometern, wie es die Container-Theorie suggeriert, in der Regel nicht mehr zu ihrem Startpunkt zurückkehren und gehen nach dem Verbrauch ihres Treibstoffs zu Boden. In anderen Worten: Wären tatsächlich „Mutter-Drohnen“ mit Coptern von Containerschiffen gestartet worden, müssen ihre Überreste am Boden aufzufinden sein – und zwar die „Mutter-Drohne“ selbst, im Mindestfall aber die Copter, die in jedem Fall keinerlei Chance auf eine Rückkehr zum Startpunkt gehabt hätten.
Da Einzelteile und Überreste selbst nach Dutzenden Sichtungen aber nicht präsentiert werden konnten, existieren sie offensichtlich einfach nicht. Zugegebenermaßen würden selbst aufgefundene Drohnentrümmer zunächst nicht per se die Schuldfrage lösen, insofern an ihnen keine russischen Reisepässe kleben. Sie würden jedoch zunächst einmal das Minimum gewährleisten, damit die Containerschiff-Theorie überhaupt in sich schlüssig ist. Diese Version scheitert somit banal an technischer Unrealisierbarkeit und an fehlenden Beweisen am Boden.
Haben russische Super-Saboteure die Drohnen wieder aufgesammelt?
Passend dazu wurde zuletzt bekannt, dass auf Containerschiffen und Tankern, die in Frankreich wegen angeblicher Drohnenstarts festgesetzt wurden, keinerlei Anhaltspunkte für diese These gefunden wurden. Wenige Tage nach der Festsetzung und der pathetischen Rede von Emmanuel Macron zur russischen Drohnenbedrohung wurden die Schiffe abseits des medialen Wirbels wegen fehlender Indizien wieder freigelassen und setzten ihre Fahrten ungehindert fort.
Eine zweite Version suggeriert, dass die Drohnen vom Boden aus von russischen Super-Saboteuren nicht nur gestartet, sondern nach ihrem Einsatz auch spurlos wieder aufgesammelt wurden. Wie eine solche Aktion bei all der Häufigkeit der Drohnensichtungen einerseits und dem Sicherheitsaufgebot rund um Flughäfen und NATO-Militärbasen andererseits möglich sein soll, erschließt sich nicht. Dass die Drohnen, die teils in Gruppen stundenlang über Infrastruktur- und Militärobjekten kreisen, weder per Jammer unterdrückt noch von Militärhelis verfolgt noch von Radaranlagen bis zu ihrem Start- oder Landepunkt getrackt wurden, um die „Operators“ festzunehmen, entbehrt jeglicher realistischen Logik.
„Selenskyjs Drohnen“? Der Druck auf Europa steigt in jedem Fall
Die einzige plausible Variante solcher Operationen wäre, dass sie mit einem gewaltigen Agentennetzwerk vor Ort ausführbar wären – einem Agentennetzwerk, welches nicht nur eine ausgebaute Drohneninfrastruktur in zahlreichen EU-Staaten unterhält, sondern auch noch bestens in den Sicherheitsstrukturen der jeweiligen NATO-Staaten vernetzt ist, um im Stealth-Modus abseits aller Fahndungsversuche zu operieren. Aus diesem Grund ergibt sich eine näherliegendere Mutmaßung als russische Containerdrohnenschiffe in der Ostsee oder unsichtbare russische Drohnenkommandos an deutschen Flughäfen – die Geräte stammen entweder von den heimischen Sicherheitsbehörden selbst oder von verbündeten Gruppen, die im Wissen oder unter Tolerierung der heimischen Sicherheitsbehörden handeln.
Interessant ist in diesem Kontext der Blick auf die ukrainische Kriegsdebatte, die sich recht stark von dem weitgehend eingleisigen Diskurs in Deutschland abhebt. Die ukrainische Kriegsdebatte ist klar zweigeteilt. Regierungsnahe Stellen stimmen die offizielle Version an, wonach es sich um russische Drohnen handelt und die EU sich dementsprechend noch viel intensiver im Ukraine-Krieg einbringen muss, um Russland zurückzuschlagen. Regierungskritische Reporter führen die gleiche Logik mit umgekehrter Folgerung auf: Gerade weil diese Drohnensichtungen die EU zu deutlich größerem Einsatz drängen, die europäischen Gesellschaften verunsichern und zugleich militärisch mobilisieren, sei es viel wahrscheinlicher, dass entweder die europäischen Geheimdienste selbst oder deren ukrainische Kollegen dahinterstecken. Den Krieg in der Ukraine medial wieder näher an den europäischen Otto Normalverbraucher zu bringen und gleichzeitig die wankende öffentliche Zustimmung für Kiew wiederzubeleben, sei die Motivation hinter den mysteriösen Coptern, die von manchen regierungskritischen Bloggern bereits den Beinamen „Selenskyjs Drohnen“ erhalten haben.
Erinnerungen an die Nord-Stream-Pipeline-Sprengung
Nicht selten werden dabei Parallelen zur Sprengung der Nord-Stream-Pipelines gezogen. Ein Anschlag, der von EU-Regierungen wie von Mainstreammedien anfangs fast ausnahmslos Russland in die Schuhe geschoben wurde, trotz der fehlenden Logik dahinter, und heute als Operation eines ukrainischen Sabotagetrupps gilt. Dem werden tiefe Verbindungen in den ukrainischen Geheimdienst und in den Generalstab nachgesagt. In diesem Fall darf als unwahrscheinlich gelten, dass westliche Geheimdienste nichts von der Operation wussten. Über ähnliche Trupps wird unter regierungskritischen ukrainischen Reportern auch bei jüngsten Drohnensichtungen spekuliert.
Ob die Untersuchungen in einigen Monaten oder Jahren schließlich zu Russen, Europäern, Ukrainern oder den Roten Khmer führen werden, wird für die aktuelle Kriegsdebatte und die politischen Entscheidungen in der EU keine Rolle mehr spielen. Die sofortigen Hauptprofiteure der Drohnensichtungen sind klar: Es sind weder der Kreml noch die russischen Frontverbände, sondern westliche Rüstungsschmieden und politische Falken, die vor dem Hintergrund der allgemeinen Verunsicherung neue Militärprojekte pushen – allen voran EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyens „Drone Wall“. Ein Vorhaben, das auf der praktischen Ebene von Fachleuten als absurd gewertet wird, könnte mittelfristig zu einem der führenden Rüstungsprojekte der EU werden, Milliarden von Euro an die Rüstungsindustrie fließen lassen und die nationalen Souveränitäten der Mitgliedsstaaten über ihre Verteidigungsbudgets und -konzepte zugunsten Brüssels aufweichen.