Rückkehr von Geflüchteten: „Gibt es eine patriotische Pflicht zur Rückkehr, Herr Oltmer?“

DIE ZEIT: Kürzlich war aus der Union zu hören, syrische Geflüchtete hätten eine patriotische Pflicht, in ihr Herkunftsland zurückzukehren und es wieder aufzubauen, ähnlich wie es Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg getan hätten. Was halten Sie von diesem Standpunkt? 

Jochen Oltmer: Er blendet zunächst einmal die Realitäten in Syrien aus. Die Situation dort ist nach wie vor von Gewalt, Unsicherheit und vielen Konfliktparteien geprägt. Es gibt keine stabile staatliche Ordnung, das Land ist weder politisch noch gesellschaftlich befriedet. Das ist eine völlig andere Situation als in den deutschen Besatzungszonen 1945, in denen der Krieg und damit die unregulierte Gewalt ja tatsächlich beendet war und immer stärker die Möglichkeit bestand, mit aufzubauen.  

„Es geht um individuelle Biografien“

ZEIT: Manche argumentieren, zumindest sunnitische Syrer könnten doch zurück, da sie als Vertreter der religiösen Mehrheit nicht befürchten müssten, Opfer von Pogromen zu werden. 

Oltmer: Das ist ein bemerkenswertes Argument, denn es gesteht ja ein, dass die syrische Gesellschaft weiterhin massiv von Gewalt geprägt ist und Menschen an Leib und Leben bedroht sind. Da viele syrische Geflüchtete in Deutschland unter subsidiärem Schutz stehen, wird in Einzelfallentscheidungen geprüft werden, ob sie zurückgehen können. Es geht um individuelle Biografien, spezifische Verfolgungsgeschichten und Schutzansprüche. Pauschale Aussagen über Gruppen sind da fehl am Platz.  


Rückkehr von Geflüchteten: Jochen Oltmer ist Professor für Neueste Geschichte und Migrationsgeschichte an der Universität Osnabrück. Er ist dort Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien sowie des Sonderforschungsbereichs Produktion von Migration der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Oltmer arbeitet zu deutschen, europäischen und globalen Migrationsverhältnissen in Vergangenheit und Gegenwart.

Jochen Oltmer ist Professor für Neueste Geschichte und Migrationsgeschichte an der Universität Osnabrück. Er ist dort Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien sowie des Sonderforschungsbereichs Produktion von Migration der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Oltmer arbeitet zu deutschen, europäischen und globalen Migrationsverhältnissen in Vergangenheit und Gegenwart.

ZEIT: Bleiben wir noch kurz in Deutschland 1945. Wer waren die Menschen, die das Land unter Hitler verlassen haben und die man zum Zurückkommen hätte auffordern können?

Oltmer: Die Forschung schätzt, dass aus dem von Deutschland beherrschten Mitteleuropa bis 1938/39 allein etwa eine halbe Million Jüdinnen und Juden geflohen sind, hinzu traten politisch Aktive oder Mitglieder der gesellschaftlichen Elite der Weimarer Republik. Nach 1945 gab es im Exil intensive Diskussionen über eine mögliche Rückkehr, und einige prominente Persönlichkeiten taten das tatsächlich – sowohl in die spätere Bundesrepublik als auch in die DDR. Die Mehrheit aber blieb dauerhaft im Ausland.

ZEIT: Glauben Sie, dass es für Geflüchtete damals wie heute so etwas wie eine patriotische Pflicht zur Rückkehr gibt?

Oltmer: Ich bin bei solchen Aussagen skeptisch. Worauf sollte denn eine solche Verpflichtung basieren? Exil ist fast immer mit der Erfahrung von Vertreibung oder Flucht verbunden, das Verhältnis zur Heimat ist beschädigt, oft irreparabel. Geflüchtete aus Syrien, die vor der Frage stehen, ob und wie sie in ihr Herkunftsland zurückkehren können, fragen sich doch: Was haben die Hände, die ich dort schütteln werde, in der Zeit Assads getan? Sind die noch da, die meinesgleichen damals einsperrten, folterten oder töteten?


Rückkehr von Geflüchteten: "Ihre Bindungen zur deutschen Gesellschaft sind stark gewachsen, ein großer Teil ist berufstätig." Geflüchtete am Münchener Hauptbahnhof, September 2015

„Ihre Bindungen zur deutschen Gesellschaft sind stark gewachsen, ein großer Teil ist berufstätig.“ Geflüchtete am Münchener Hauptbahnhof, September 2015

ZEIT: Gab es das überhaupt je, dass Geflüchtete in großer Zahl freiwillig in ihr Herkunftsland zurückgegangen sind?

Oltmer: Nicht sehr häufig. Die Tendenz ist eher, dass Geflüchtete sich dauerhaft im Aufnahmeland niederlassen, denn die Regime oder Kriege, vor denen sie fliehen, sind meist langlebig. Oft führt der Weg der Menschen zunächst in Nachbarländer, wo sie auf eine Änderung der politischen Lage warten, doch nach einer gewissen Zeit orientieren sie sich häufig in entferntere Regionen. So war es auch bei den Menschen aus Syrien. Viele flohen zuerst nach Jordanien, in den Libanon oder die Türkei und wanderten dann weiter, weil die Hoffnung auf Veränderung sank und die Lebensbedingungen zu schlecht wurden.

Ihre Bindungen zur deutschen Gesellschaft sind stark gewachsen“

ZEIT: Sie erwarten also nicht, dass viele Syrerinnen und Syrer freiwillig zurückkehren?

Oltmer: Ich halte das für unwahrscheinlich. Das heutige Durchschnittsalter der syrischen Geflüchteten in Deutschland liegt bei 24 Jahren, viele sind im Kindes-, Jugend- oder jungen Erwachsenenalter nach Deutschland gekommen und leben hier bereits seit etwa zehn Jahren. Ihre Bindungen zur deutschen Gesellschaft sind stark gewachsen, ein großer Teil ist berufstätig. Hinzu kommt: Es wäre für Deutschland ein Schlag, wenn Hunderttausende Arbeitskräfte verschwinden würden.