Roman „Juli, August, September“ von Olga Grjasnowa: Jüdisch, allerdings wie?

Die große Identitätskrise – Olga Grjasnowa erzählt von einer Frau, die sich zwischen den Rollen der Geliebten, der Mutter und der Jüdin einen Platz suchen muss


Die Autorin Olga Grjasnowa

Foto: Valeria Mitelman


Eine Familie in Berlin: Vater, Mutter, Kind. Ganz normal also. Und doch knarzt es in der Beziehungsarchitektur. Während Sergej seine internationale Pianistenkarriere (mitsamt der typischen Künstlerkrisen) verfolgt, kommen in Lou immer mehr Zweifel über die gemeinsame Zukunft auf. Wo ist ihr Platz, nachdem wiederum sie ihre berufliche Perspektive als Kunsthistorikerin für die Erziehung von Rosa hintenangestellt hat? Obwohl sich Mann und Frau in dieser Story lieben, machen sich längst Risse in der Beziehungsfassade bemerkbar.

Hinzu kommt, dass sich die Ich-Erzählerin, die bis dato wenig mit ihrer Religion im Alltag zu tun hatte, zunehmend Fragen zu ihrer jüdischen Herkunft stellt. Geradezu schicksalshaft erreicht sie in diesen Tagen der Verunsicherung eine Einladung zum 90. Geburtstag ihrer Tante, den sie auf Gran Canaria feiern will. Man kann sich schon denken, dass bei diesem Wiedersehen mit den Verwandten nicht nur Kaffee und Kuchen auf dem Plan stehen. Vielmehr erweist sich die Vergangenheit, der Holocaust und seine Folgen, als allpräsent.

Natürlich liest man eine derartige Geschichte über jüdische Identitätserschütterungen und die Diaspora nicht zum ersten Mal. Gleichwohl nimmt die in Baku geborene Autorin Olga Grjasnowa in ihrem neuen Roman Juli, August, September einen nicht allzu häufig anzutreffenden Standpunkt ein, nämlich jenen der Generation der Nachgeborenen. Da sie die nationalsozialistische Gräuel nicht selbst erlebt haben, sind sie umso mehr auf die Erinnerungen ihrer Eltern und Großeltern angewiesen. Nur was passiert, wenn diese unzuverlässig werden?

Schon 2014 hatte Ron Segal mit Jeder Tag wie heute ein faszinierendes Prosawerk vorgelegt, in dem die Erinnerungen eines Überlebenden zunehmend überlagert werden und in wilde Fantasiekonstruktionen übergehen. Lou muss derweil feststellen, dass es zum Verbleib ihrer Vorfahren im Zweiten Weltkrieg „unterschiedliche Versionen“ gibt, nicht zuletzt auch wegen einer Demenzerkrankung. Es „klaffte zwischen der Familienerzählung und der Wirklichkeit eine große Lücke“. Begebenheiten werden umerzählt oder beschönigt, Details weggelassen oder vergessen, damit alte, offenbar nie ganz vernarbte Wunden nicht wieder aufbrechen. Daher gibt es für die Heldin nur eine Option: Nach der missglückten Feier, die ohnehin nur verdrängte Konflikte unter den Anwesenden preisgab, muss sie selbst nach Israel reisen. Erst ein Archivbesuch sollte Licht ins Dunkel bringen.

Bereits Deborah Feldman hatte die Diskussion um das Selbstverständnis junger, urbaner, westlicher Juden und Jüdinnen angestoßen und dabei gegen eine vornehmlich historische Begründung der Identität argumentiert. Obgleich Grjasnowa exakt über diesen Personenkreis schreibt, offenbart sich in ihrer Fiktion eine andere Konsequenz. Die Schrecken von gestern leben als Geister in der Gegenwart fort. Sie zu leugnen, bedeutet für Lou mit einer unaushaltbaren Leere konfrontiert zu sein. Zukunft, so wird ihr bald klar, kann nur entstehen, wenn zuvor eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattgefunden hat.

Dieser enge Zusammenhang lässt sich ebenso an der Form des Textes ablesen. Denn die Schriftstellerin mit russisch-jüdischem Hintergrund, die – ähnlich wie ihre Heldin – mit einem Schauspieler, also einem Künstler, verheiratet ist und eine Tochter hat, schildert die Ereignisse weitestgehend linear. Sie verzichtet auf rhetorische Ausschmückungen zugunsten eines beinah berichtartigen Stils. Er passt genauso zur historischen Aufarbeitung, ja der Wahrheitssuche wie zur dysfunktionalen Ehe: „Zwischen uns war kein Ozean, keine Geste, kein Wort.“

Angesichts des aktuellen Kriegs in Israel erscheint Juli, August, September als eine Standortbestimmung, als Versuch, sich als Jude oder Jüdin zu einem fernen und doch nahen Israel zu positionieren, wo derzeit fürchterliche Gefechte ausgetragen werden. Zwischen den Fronten zu stehen, weder hier noch dort über eine Heimat zu verfügen, kennzeichnet übrigens die Spannung, die Olga Grjasnowas meisten Werken innewohnt. Sei es ihr Roman Der verlorene Sohn über die kulturelle Spaltung im Kaukasischen Krieg oder ihr Debüt Der Russe ist einer, der Birken liebt, in dem sie eine jüdische Einwandererin nach Deutschland aus der Sowjetunion ins Zentrum rückt – ihre Figuren sind getrieben von der Ruhelosigkeit einer globalisierten, spätmoderne Welt. Ob auch Lou am Ende ortlos bleibt? So viel sei verraten: Die Liebe zu ihrer Tochter wird ihr den Weg weisen.

Meine Tochter wusste nichts über Anne Frank

Olga Grjasnowa erzählt in ihrem neuen, brillanten Roman „Juli, August, September“ von einer modernen jüdischen Familie. Sie schafft es, ein jüdisches Lebensgefühl mit ihren Worten einzufangen, das eigentlich unfassbar ist.

Leseprobe aus „Juli, August, September“