Roman „Damenschach“ von Finn Job: Eskalation in einer Villa im Wienerwald

Finn Job beweist in „Damenschach“ ein feines Sensorium für die Selbstgerechtigkeit der heutigen Debattenkultur


Finn Jobs Roman „Damenschach“ spielt in einer Villa im Wienerwald – Eskalation inklusive

Foto: Francesco Carta Fotografo/Getty Images


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Bevor Individualität zu einem zentralen Wert der Persönlichkeitsbildung erklärt wurde, galt ein „Charakter“ als etwas relativ Statisches und Schematisches. Bis in die Neuzeit bestand die Auffassung, dass sich Eigenschaften wie Wollust, Ehrsucht oder Geiz in symptomatischen, äußerlich ablesbaren Verhaltensweisen niederschlagen. In der Commedia dell’Arte des 17. Jahrhunderts wurden solche Verhaltensweisen prototypisch auf die Bühne gebracht: Figuren wie der listige Diener, der geizige Kaufmann oder der pseudogelehrte Doktor durchliefen keine Entwicklung und hatten keine komplexe Psyche, sondern waren darauf festgelegt, die immer gleichen Handlungsmuster durchzuspielen.

Der 29-jährige Schriftsteller Finn Job, der für sein Debüt Hinterher (2022) viel Lob bekam, hat nun einen Roman veröffentlicht, der erkennbar von dieser Tradition inspiriert ist. Damenschach spielt in einer Villa im Wienerwald, wo die verwitwete Marie-Louise mit ihrer Haushälterin Ivana lebt. Zu ihrem 50. bekommt die Hausdame nicht nur Besuch von ihrem Ex-Liebhaber, dem ebenfalls verwitweten, permanent alkoholisierten Psychoanalytiker David, sondern auch von ihrem Zwillingsbruder, der sich im Zuge seiner Geschlechtstransformation von Marie-Claire in Marius umbenannt hat. Begleitet wird er von seiner Freundin, der jungen, attraktiven Olivia. Die Romanhandlung, die nur einen einzigen Tag umfasst, durchläuft eine Dynamik der zunehmenden Eskalation. Das Verhältnis der Figuren ist von Klassenkämpfen und Bildungsdifferenzen, von politischen und generationellen Konflikten geprägt. Während etwa der Berliner Galerist Marius ausschließlich „migrantische“ und „nonbinäre“ Künstlerinnen ausstellt, weil er „westliche Kunst“ aufgrund der „historischen Schuld“ zunehmend problematisch findet, polemisiert seine Schwester gegen die „Verschwörungstheorie, nach der alle weißen Männer Täter und alle querschnittsgelähmten Nigerianer benachteiligte, gute Menschen sind“. Olivia, die von Marie-Louise mit einem „degenerierten Zwölfjährigen“ verglichen wird, ist mit Marius nur noch aus Geldgründen zusammen.

Polemiken links wie rechts

Am Höhepunkt des Abends beschimpft sie ihn als „Fotze“ und teilt ihm mit, dass eine „vergrößerte Klitoris kein Penis“ sei. David, der noch immer unter dem Tod seiner Frau leidet, obwohl er sie am Tag ihres tödlichen Unfalls eigentlich verlassen wollte, bemüht sich vergebens, die psychischen Abgründe des Zwillingspaars zu ergründen. Ivana wiederum erweist sich als Drahtzieherin des Geschehens: Sie kommt immer im richtigen Moment mit einer Flasche Champagner, einer Käseplatte oder einer Schrotflinte um die Ecke.

Die Dialoge der Figuren über Identitäts- und Geschlechterpolitik, Rassismus, Kolonialismus, die deutsche Schuld und die Rolle des Westens wirken in ihrer zugespitzten Polemik wie ein Potpourri aus den X-Profilen linker wie rechter Aktivisten. Genau das ist der intendierte Eindruck. Dass Job bewusst auf eine Gattungstradition zurückgreift, die bereits vor 300 Jahren als zu schematisch kritisiert wurde, unterstreicht die Starrheit und Festgefahrenheit der Positionen. Mitunter reflektieren die Figuren diesen Umstand sogar – etwa wenn Ivana sich als „Colombina“ bezeichnet und damit auf die Rolle der klugen Dienstbotin in der Commedia dell’Arte anspielt. Es geht also gerade nicht darum, realistische oder „authentische“ Figuren zu zeichnen. Der artifizielle Charakter des Roman-Experiments ist durchweg erkennbar. Job verfügt über ein feines Sensorium für die Doppelmoral und Selbstgerechtigkeit gegenwärtiger Debattenkulturen – und über großes Talent, sie erzählerisch in Szene zu setzen. Dennoch wirkt die Gesellschaftssatire an einem gewissen Punkt überdreht. Wenn Marie-Louise Ivana verprügelt, wenn sie David als „dreckigen Juden“ beschimpft, wenn Marius Olivia bewusstlos schlägt und fesselt, um ihr anzudrohen, sie gemeinsam mit seiner Schwester zu verspeisen, dann erscheint dieses gewalttätige Finale plakativ. Je mehr das Verhalten der Figuren in Rassismus, Misogynie und Antisemitismus umschlägt, desto leichter fällt es, sie abzulehnen.

Brillant ist der Roman an jenen Stellen, an denen der Widerspruch zwischen dem Selbstbild und dem Verhalten der Figuren so subtil dargestellt wird, dass man sie immer noch ein bisschen mag. Und sich vielleicht sogar ein Stück weit in ihnen wiedererkennt.

Damenschach Finn Job Verlag Klaus Wagenbach 2024, 176 S., 22 €