Romain Garys Partisanenroman: Mit General Nachtigall gegen die Wehrmacht

In der Literatur gilt wie beim Gemüse: Frische ist ein Qualitätsmerkmal, besonders wenn die Ware etwas älter ist. Wenn einen ein Roman von 1944 direkt knackig und saftig anlacht, ist es fast geschafft. So die „Europäische Erziehung“ von Romain Gary: „Das Versteck war bei Tagesanbruch fertig. Es war ein düsterer Septembermorgen, vom Regen durchtränkt. Die Tannen verschwammen im Nebel, der Blick reichte kaum hinauf bis zum Himmel.“ Wer da nicht weiterlesen will, dem ist nicht zu helfen. Das gilt doppelt, weil Birgit Kirberg erstmals direkt aus dem französischen Original übersetzt und so dem abenteuerlichen Lebensweg des Romans ein wichtiges Unterkapitel hinzufügt.

„Europäische Erziehung“ erzählt die Geschichte von Janek, vierzehn Jahre, den sein Vater im Herbst 1942 bei Vilnius im Wald verbirgt; seine zwei Brüder haben die Besatzer getötet. Doktor Twardowski versucht dann, seine Frau und Janeks Mutter aus den Händen der SS-Division „Das Reich“ zu befreien. Zynisch verbindet die SS „das Angenehme mit dem Nützlichen“, indem sie Frauen, Töchter und Schwestern von Widerstandskämpfern vergewaltigt, darauf wettend, dass deren Angehörige verzweifelte Versuche unternehmen, sie zu retten. In der Tat greifen die Männer den umfunktionierten Landsitz an und lassen sich abknallen wie die Kaninchen; unter den Opfern ist der Doktor, dem es gelingt, mehrere Soldaten mit in den Tod zu reißen.

Romain Gary
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Sein Vater hinterlässt Janek ein janusköpfiges Vermächtnis. Einerseits die Hoffnung: „Nichts Wichtiges stirbt.“ Andererseits das Misstrauen: „Nimm dich in Acht vor den Menschen.“ Janek hat Glück: Als er die Vergeblichkeit seines Wartens begreift, bricht er auf und trifft einen Trupp Partisanen, „die Waldler“, die ihn aufnehmen. Die Perspektive des Romans weitet sich auf ein wild zusammengesetztes Kollektiv: Leutnant Jablonski, dessen Geliebte in Vilnius Chopin spielt und Janek mit ihrer Musikbegeisterung ansteckt; Stanczyck, der Friseur, dessen Töchter die Deutschen vergewaltigt und prostituiert haben; zwei Jurastudenten, die als Funker für die Kommunikation zuständig sind und laufend den Standort wechseln; Cukier, der jüdische Metzger; Pan Mecenas, der alte Rechtsanwalt, der sich wegen seiner jungen Frau heroisch opfert, nicht ahnend, dass sie ihn mit einem Deutschen betrügt; die drei Zborowski-Brüder, schweigsame Bauern, die Essen organisieren und furchtlos kämpfen. Sie und viele andere führen in den winterlichen Wäldern einen Überlebenskampf gegen die Deutschen, vor allem aber gegen „den Hunger, die Kälte und die Verzweiflung“.

Der Leser lernt mit Janek die Partisanen kennen, die eine Vielfalt an Ländern, Kulturen, Religionen verkörpern – ein europäisches Panorama, im Bewusstsein geeint, Teil einer umfassenden Widerstandsbewegung zu sein. Das Weltgeschehen, besonders die Schlacht in Stalingrad, ist fester Bestandteil der Unterhaltungen, die den Kern des Romans ausmachen. Ein Raum der Ängste, Nöte und der utopischen Träume: Ein Trupp romantischer Studenten stellt sich eine bessere Zukunft nach dem Krieg vor. Die titelgebende Erziehung, die Janek durchläuft, setzt freilich den Kontrapunkt dazu: „Sie bringt uns bei, wie man den Mut und triftige Gründe findet, sehr gute Gründe, seine eigenen Gründe, um einen Menschen zu töten, der einem nichts getan hat, einen, der auf dem Eis sitzt, mit Schlittschuhen an den Füßen und hängendem Kopf, und der darauf wartet, dass es passiert.“ Gemeint ist ein junger deutscher Soldat, den Janek kaltblütig erschossen hat.

Schreiben, als gäbe es kein Morgen

Ein zweites Spannungsfeld findet sich zwischen tragischem Ernst und wüster Komik. Während das Leben in den Wäldern kaum Anlass zum Lachen gibt, gilt das für die Geschichten nicht, die Student Dobranski den Partisanen vorliest. Wenn Hügel reden oder die erfrierenden deutschen Soldaten vor Stalingrad Schneemännern zum Opfer fallen, dann bewegt sich Gary zwischen Märchen und Groteske. Die fünf Einschübe sind noch in anderer Hinsicht aufschlussreich: Sie zeigen den episodischen Charakter des Romans. Zwar spannt dieser einen großen Bogen von der Verzweiflung eines eisigen Winters hin zur freudig erwarteten Ankunft der Roten Armee. Auch entwickelt er in einem zweiten die grausame Erziehung, die Janek an der Seite der nur ein Jahr älteren Zosia durchläuft; sie hat sich prostituiert, um den Feind auszukundschaften, gründet nun jedoch mit Janek eine familiäre Mikrozelle. Aber die Etappen beider Spannungsbögen sind weniger prägend als die kleinen Geschichten, die jedes Kapitel präsentiert.

Das hat einen einfachen Grund: Gary schrieb seinen Roman mitten im Krieg. Der 1914 in Vilnius geborene Jude Roman Kacew war aus Frankreich, wo er seit 1928 lebte, nach England geflohen und mischte als Pilot der Staffel „Lorraine“ fleißig mit. Jeder Flug konnte der letzte sein, und die Nächte, die Gary der Legende nach mit Schreiben füllte, waren kostbar. So erzählte er, stets den Tod vor Augen, eine Geschichte nach der anderen, bis ein Roman entstanden war. Den veröffentlichte Gary im Dezember 1944 in englischer Übersetzung und nach der Befreiung 1945 in Paris – ein großer Erfolg. Dies war nicht die endgültige Version: 1960 publizierte Gary eine amerikanische Fassung, die er diesmal selbst erstellt hatte; er war mittlerweile französischer Generalkonsul in Los Angeles und beherrschte das Englische perfekt. Schließlich erschien 1961 in Frankreich eine endgültige Version, die wiederum von der amerikanischen abwich: Letztere enthielt eine Erzählung weniger und war dank Vorausdeutungen auf die amerikanische Landung klar auf das US-Publikum zugeschnitten.

Romain Gary: „Europäische Erziehung“. Roman.
Romain Gary: „Europäische Erziehung“. Roman.Verlag

In Deutschland ist von den vier Versionen eine einzige erschienen: Günther K. Leupold hat 1962 die amerikanische unter dem Titel „General Nachtigall“ ins Deutsche übertragen; sie ist längst nicht mehr erhältlich. Kirberg hat nun – weit einleuchtender – die finale französische Fassung von 1961 übersetzt. Streng genommen ist der Roman also nicht von 1944: Die letzte Fassung ist länger, optimistischer, an Figuren reicher. Sie hat eine andere politische Dimension: „General Nachtigall“, im Roman meist „Partisan Nadejda“, ist zum Fluchtpunkt geworden. Die geheimnisumwitterte Figur – „es ist unsere alte polnische Nachtigall, die seit Urzeiten in unseren Wäldern singt“ – ist eine Erfindung der Partisanen: Sie haben einen Mythos geschaffen, einen so allgegenwärtigen wie unfassbaren und damit auch unbesiegbaren Helden, dem sie alle Erfolge zuschreiben. Im Nachkriegseuropa soll er eine Führungsrolle übernehmen – Gary dachte wohl an den General de Gaulle, den er verehrte.

Der erfundene Heros führt erneut zum Leben des Autors: Gary ist dafür bekannt, dass er als einziger französischer Schriftsteller den Prix Goncourt zweimal erhalten hat, ein Mal unter dem Namen Émile Ajar, eines von insgesamt sechs Pseudonymen. Die zahlreichen Namen verweisen auf ein multiples Werk. In Deutschland wurde es entsprechend aufgenommen: verteilt auf mehrere Verlage. Der Wagenbach Verlag beginnt mit „Europäische Erziehung“ den Versuch einer Zusammenführung – je nach Erfolg könnte eine Reihe entstehen. Man kann es nur hoffen, denn der 1980 im Freitod verschiedene Gary ist ein viel gelesener Autor in Frankreich. Die Frische des Erstlings lässt ahnen, warum.

Romain Gary: „Europäische Erziehung“. Roman.
Aus dem Französischen von Birgit Kirberg. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2025. 224 S., geb., 24,– €.

Source: faz.net