„Richard III.“ in Wien: Das finster Monstrum spielt aufwärts

Hastings ist Richmond. Der Prinz von Wales ist auch Richmond. Herzog Clarence ist Tyrell, und Buckingham ist Brakenbury – und Richmond. Weil auch Lady Anne und Tyrell Richmond sind, sind im Grunde fast alle Richmond, bloß Gloucester (gesprochen: Gloster) nicht, der spätere König Richard. Der ist außer er selbst nur noch sein Vorgänger, Edward IV., sein Bruder.

Jedenfalls in Wien ist jeder ein bis fünf andere. Das Personenverzeichnis von Shakespeares „Richard III.“ umfasst achtundvierzig Figuren, hinzu kommen noch ein paar Geister, Wachen, Bischöfe „and others“. Die Inszenierung von Wolfgang Menardi am Akademietheater hat sie auf 21 Rollen und sechs Schauspieler reduziert, fünf Frauen und Nicholas Ofczarek.

Das ist keine Spielerei, das ist das Spiel, in dem alle Puppen austauschbar sind. Denn es herrscht Krieg, der berühmte Rosenkrieg zwischen zwei englischen Herrenhäusern, beide aus demselben Stamm. Waren sie schon vorher schwer zu unterscheiden, gleichen sie sich in ihrem mehr als dreißigjährigen Krieg vollends einander an. Bewährte Strukturen löst er auf. Familien verschwören sich nicht nur gegen andere Familien, sondern auch gegen die eigene. Der Onkel heiratet die Nichte und tötet zwei Brüder, um sich deren Schwester anzutragen, nachdem er sich zuvor die Witwe des Thronfolgers genommen hatte, den er ebenfalls ermorden ließ, und die er nun loswerden muss. Weil das alles nicht kompliziert genug ist, gibt es auch noch Kinder aus ersten Ehen, die ebenfalls beseitigt werden müssen. Leicht verliert man den Überblick, wen Richard alles umgebracht hat.

Bloßes Material seiner hemmungslosen Impulse

Die heutigen Zuschauer, denen Lancaster und York so wenig sagen wie die Thronfolgekomplikationen des englischen Brutaladels, können der Wiener Fassung von Thomas Jonigk dankbar sein. Und Shakespeare, der das ganze Geschehen auf Richard III. konzentriert hat. Gloucester ist, was er historisch nicht war, der Teufel, die verkörperte Bösartigkeit der Macht. Er vereinfacht die Handlung, weil ihm alle Unterscheidungen, politische wie familiäre, ganz gleichgültig sind, bloßes Material seiner hemmungslosen Impulse. Verwandtschaft, Loyalitäten, Bürgermeister, Ehefrauen, Feinde – alles ist ihm egal, alles ist ihm nur als Mittel des eigenen Machtgewinns bedeutsam.

Das Machttier und seine Opfer: Dörte Lyssewski , Nicholas Ofczarek und Sylvie Rohrer in Wien
Das Machttier und seine Opfer: Dörte Lyssewski , Nicholas Ofczarek und Sylvie Rohrer in WienTommy Hetzel

So wird er zum Schauspieler, der alle ständig täuschen, überrumpeln und belagern muss. Niemand mag ihn, alle folgen ihm. Nicholas Ofczarek spielt das hinkende massige Machttier verschlagen, weinerlich und brachial. Nichts, was er sagt oder brüllt, ist zweifellos das, was er denkt oder fühlt. Richard III. ist kein verkrüppelter Machiavellist, der durch Strategien seine hässliche Existenz kompensiert. Die ist ihm, dem bösen, zum Täter aufgeblähten Kind, nämlich gerade recht: „Ich werd’ in einen Spiegel investieren“. Er führt den Abgrund einer Welt vor, in der alles nur Rhetorik ist und am Ende niemand sagen kann, worum genau es ging. Dazu passt es, dass Richard mitunter die Regieanweisungen („Auftritt Hastings“) spricht.

In der Gegenwart ist alles hässlich, schmutzig, kaputt

Wolfgang Menardi hat nicht nur Regie geführt, sondern auch die Bühne entworfen, einen großen, grüngelb gefliesten Raum, der wie ein Keller wirkt, der ehedem wohl eine Funktion hatte. Man weiß aber nicht welche. Es liegen Torsi von Pferden und Tierknochen herum, aus einer Hundehütte kommt ein kleiner Roboter hervor und macht artig Männchen, es gibt Gegensprechanlagen, eine Hebebühne und einen Hochsitz wie für Tennis-Schiedsrichter, der als „Tower“ angesprochen wird. In einem Fernsehgerät läuft „Richard III“ mit Laurence Olivier, die Zeit des großen Königsdramas ist von gestern. In der Gegenwart ist alles hässlich, schmutzig, kaputt. Zwischendurch fahren Stroboskoplicht und Sirene über die Szene, als läge irgendwo eine elektrische Leitung frei. Endstation Machtsucht.

Die fünf Frauen, die den feisten Planeten Richard umkreisen, sehen aus wie blassrosa Schaufensterpuppen in beigen Trikots, denen jeweils die Kostüme der Königinnen, Adlige und Handlanger übergestreift werden. Dörte Lyssewski stiehlt als Nebensonne Buckingham dem Tyrannen durch eine Mischung aus kalkulierter Devotion, kriecherischer Entschlossenheit und grimassenhafter Beflissenheit die Show. Sie ist der Pol dienstbarer Propaganda und Auftragsmorde, den Richard braucht, damit aus seinen Impulsen Taten werden. Fassungslos und verlogen nehmen Katharina Lorenz als Lady Anne, Dorothee Hartinger als Königinwitwe I und Sarah Viktoria Frick als Königinwitwe II die sich steigernden Zumutungen hin, denen sie sich nur durch Aufgabe ihrer Existenz entziehen könnten. Alle sind Opfer, alle sind beteiligt, alle sind von Heuchelei und Angst durchdrungen, im Grunde schon innerlich tot, als das Spiel beginnt. Alle sind in ihm gefangen wie der von Sylvie Rohrer anrührend gespielte Clarence im Tower, sind noch lebendig, aber das scheint eben nur so.

„Die Welt ist schlecht, sie wird in Scherben gehen / Das Land voll Blut, doch keiner hat’s gesehen“. Blut fließt in den knappen drei Stunden tatsächlich nicht. Die Geister derer, die er hat abschlachten lassen, suchen Richard in seinem abschließenden Albtraum auf dem Schlachtfeld auch nur ganz kurz heim. Ein Kampf wird uns nicht gezeigt. Der berühmte Ruf nach dem Pferd („My kingdom for a horse“) ist in Wien nur noch ein Halbsatz.

Das ist insofern folgerichtig, als alles zuvor schon ein Albtraum war, angefüllt mit surrealen Gesichtern, einer Königspuppe, die den Vorgänger zeigen soll und aussieht wie der Nachfolger, mit ballwerfenden („Hepp, hepp“) Adligen und rotbemützten automatengleichen Mordbuben, die nicht reden, sondern Text aufsagen. Menardi trägt keinen Traktat über Macht vor, und bis auf zwei kurze, scherzhafte Gesten von Ofczarek unterbleibt auch jede Anspielung auf Tyrannen unserer Tage. Das Stück hält keinen Rat bereit, und auch die Hoffnung auf einen besseren Thronfolger, Shakespeares Lippendienst für die Tudors, ist hier gestrichen. Shakespeares Bühne, das zeigt der fabelhafte Abend, war keine moralische Anstalt.

Source: faz.net