Rettungsdienst: Wenn welcher Rettungsdienst selbst die 112 anrufen muss

Wer in Berlin die 112 wählt und einen Rettungswagen braucht, durchläuft seit Ende März eine Triage, es wird also sortiert: In der Hauptstadt kategorisiert die zuständige Feuerwehr seit Neuestem die Fälle nach Dringlichkeit. Ist der Patient bewusstlos, rückt der Rettungswagen sofort aus – der Statistik zufolge trifft dies aber nur auf fünf Prozent der Notrufe zu. 

Geht es um Brustschmerzen, Bewusstseinsstörungen, Atemnot oder stärkere Blutungen, sollen die Retter „mit hoher Geschwindigkeit handeln“. Bei Vergiftungen dürfen sich die Retter hingegen ein wenig mehr Zeit lassen. 

Grund für die drastische Entscheidung sind die vielen Einsätze. Allein im Januar waren es in Berlin 44.000 – und viele davon unnötig, sagt die Feuerwehr. Die Menschen hätten wegen Grippe den Rettungswagen gerufen. 

Nebenan in Brandenburg überlegen sich die Menschen dagegen ganz genau, ob sie den Notruf wählen. Seit Jahresbeginn müssen Patienten für den Rettungswagen in einigen Landkreisen mehrere Hundert Euro privat dazu zahlen, selbst wenn es um Leben und Tod geht. Hintergrund ist ein Streit zwischen den Landkreisen und den Krankenkassen über die Finanzierung des Rettungsdienstes. Das Land appelliert daher an die Menschen, den Rettungsdienst nur im äußersten Notfall zu rufen.  

Und in Baden-Württemberg darf sich der Rettungswagen inzwischen sogar offiziell länger Zeit nehmen, um zum Patienten zu kommen. Mit dem neuen Rettungsdienstgesetz wurden die Rettungsfristen auf bis zu 15 Minuten festgezurrt. Bei einem Reanimationsversuch ist der Patient dann möglicherweise schon tot. 

„Das Rettungsdienstsystem in Deutschland kollabiert überall“, sagt Christof Constantin Chwojka. Er ist Geschäftsführer der Björn-Steiger-Stiftung, die sich seit 1969 für das Rettungswesen in Deutschland einsetzt. Die Stiftung hat gerade Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt. Die Stiftung klagt gegen die Bundesrepublik Deutschland und gegen das Land Baden-Württemberg, exemplarisch für alle Bundesländer. „Der Bund kommt seiner Aufgabe, die Notfallversorgung der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen, nur unzureichend nach und stellt kein durchgängig funktionierendes, flächendeckendes Rettungsdienstsystem mit bundesweit vergleichbaren Qualitätsstandards zur Verfügung“, sagt Chwojka. Außerdem verletze das baden-württembergische Rettungsdienstgesetz vom Juli 2024 das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. „Die Überlebenschancen dürfen nicht vom Wohnort abhängen.“

Gemeint ist damit, dass noch immer bundesweit einheitliche Standards für die Notfallrettung fehlen, etwa wie schnell ein Rettungswagen beim Patienten sein muss. Wie so oft macht es der Föderalismus kompliziert: Da der Rettungsdienst Ländersache ist, gibt es teils sehr
unterschiedliche Vorschriften und für fast jedes Bundesland ein eigenes
Rettungsdienstgesetz. Das führt zu einem absurden Flickenteppich und
dazu, dass Menschen sterben, nur weil Landesgesetze zum Beispiel die
Kompetenzen der Notfallsanitäter verschieden regeln – in einem Bundesland darf ein Notfallsanitäter bestimmte medizinische Versorgung leisten, in einem anderen nicht. Die Ländergrenze kann somit über Leben und Tod entscheiden. Die Stiftung fordert daher ein bundesweites Rahmengesetz, das einheitliche Regeln vorschreibt, die am Ende sogar Leben retten.

Klage abgelehnt und trotzdem erfolgreich

Mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Land Baden-Württemberg und die Bundesrepublik Deutschland kennt sich die Stiftung aus. 1973 klagte sie, um die bundesweite Einführung der Notrufnummern 110 und 112 durchzusetzen. Auch wenn die Klage abgelehnt wurde – das Thema kam in die Öffentlichkeit und führte am Ende dazu, dass die Notrufnummern deutschlandweit einheitlich geschaltet wurden. Einen ähnlichen Erfolg erhofft sich die Stiftung auch mit der jüngsten Verfassungsklage.

Doch fehlende, bundesweit vergleichbare Standards sind nicht das einzige Problem im Rettungswesen.“Besonders umstritten ist die Finanzierung der Rettungsdienste. Was viele nicht wissen: Bezahlt wird bei einem Rettungswageneinsatz nur die Fahrt ins Krankenhaus, nicht etwa die medizinische Behandlung am Unfallort oder während der Fahrt. Chwojka nennt das „Fehlanreize“ – denn in vielen Fällen sei eine Versorgung in einer Klinik nicht medizinisch erforderlich. Noch SPD-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach beziffert die Zahl dieser Fehleinweisungen auf mindestens 30 Prozent. Wenn der Rettungsdienst nur bezahlt wird, wenn er den Patienten in eine Notaufnahme einer Klinik fährt, wo oft eine teure, oft unnötige medizinische Untersuchung erfolge, führe dies dazu, „dass die schon überlasteten Rettungsdienste die überlasteten Notaufnahmen noch mehr überlasten“, sagt Chwojka. Am Ende litten darunter die Patienten, die oft nicht die Versorgung bekämen, die sie eigentlich bräuchten.  

Lauterbach hatte eine Reform der Rettungsdienste auf den Weg gebracht. Diese stützte sich unter anderem auf die Empfehlungen einer Expertenkommission und ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, das empfiehlt, die Rettungsdienste ins Sozialgesetzbuch V (SGB V) aufzunehmen. Dadurch könnte auch die medizinische Versorgung im Rettungswagen oder am Unfallort durch die Krankenkassen bezahlt werden – unnötige Fahrten in eine Klinik müssten nicht erfolgen. Doch auch den Krankenkassen fehlt schlicht das Geld dafür. Daher liegen unterschiedliche Finanzierungsmodelle auf dem Tisch, die eine gerechte Verteilung der Kosten durch Bund, Länder und Krankenkassen vorsehen. 

Hier könnte es sogar recht schnell eine Lösung geben: Die Ampel hatte die Gesetzesentwürfe zur Notfall- und Rettungsdienstreform bereits beschlossen. Eine neue Bundesregierung von Union und SPD hat sich bereits in den Koalitionsgesprächen darauf verständigt, die Entwürfe in den ersten hundert Tagen auf den Weg zu bringen.