Rentenstreit: „Staatstragend“ ist kein Schimpfwort

Was ist Regieren anderes als Kompromisse schließen? Jedenfalls das Regieren in einer Demokratie. Man braucht eine Mehrheit, meist zusammen mit dem Koalitionspartner, aber auch in der eigenen Fraktion. Kompromisslosigkeit und die reine Lehre sind anderen Systemen vorbehalten – und sogar unter autoritärer Herrschaft ist das vermeintliche Durchregieren bisweilen eher Schein als Sein. Insofern ist die Mahnung des Bundespräsidenten im Rentenstreit eine Selbstverständlichkeit. Gerade mit Blick auf das Scheitern der Ampel und ein schwindendes Vertrauen nicht weniger Bürger in Institutionen und Parteien muss die Koalition Handlungsfähigkeit beweisen.

Fülle von Herausforderungen

Die Fülle und Art der Herausforderungen macht das nicht leichter, zumal die Bruchlinien auch innerhalb der eigenen Reihen verlaufen – etwa in der Frontstellung Jung gegen Alt. Gleichwohl ist jeder – auch jeder Möchtegernrebell, dem der Begriff der Verantwortung etwas bedeutet –, dazu aufgerufen, die eigenen Interessen, die seiner Gruppe, aber eben auch die des Gemeinwohls im Blick zu haben. Zur Erinnerung: Jeder Abgeordnete vertritt das ganze Volk. Auch Alten sollte die Zukunft der Jugend am Herzen liegen sowie den Jungen die Lage der Alten. Die Auseinandersetzung darf gern hart sein, und jeder weiß, dass sich Drohungen und Herumposaunen – von Tarifverhandlungen bis zu internationalen Verträgen – nicht zuletzt an die eigene Anhängerschaft richten, aber gerade nicht das letzte Wort sind.

Jeder muss die Bereitschaft zur Einigung in sich tragen. Es mag sich nun rächen, wenn man den Mund im Wahlkampf zu voll genommen hat. Aber der Blick muss nach vorn gerichtet sein. Es geht nicht um eine Einigung um jeden Preis, sondern um einen Kompromiss mit Augenmaß. Etwas scheitern zu lassen, ist leicht. Die Folgen wiegen aber schwer. Kompromisse sind nicht per se faul, und die Wähler wenden sich nicht automatisch mit Grausen ab. Staatstragend – das kann in einem freiheitlichen Gemeinwesen kein Schimpfwort sein.

Source: faz.net