Reichspogromnacht: „Aufmachen, Jude!“

Der 9. November ist ein Schicksalsdatum: 1848 wurde Robert Blum erschossen und endete die Märzrevolution, 1918 trat Kaiser Wilhelm II. zurück als Folge der Novemberrevolution und im Zuge der sich abzeichnenden Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg, 1923 scheiterte Hitlers Putsch in München gegen die Weimarer Republik, 15 Jahre später kam es unter seiner Macht zu Pogromen gegen alles Jüdische in Deutschland, 1989 schließlich fiel die Mauer. Das Zwiespältige des Datums schreibt sich fort: 2025 gab es in Halle einen fragwürdig als Büchermesse deklarierten „Seitenwechsel“, in Dresden dagegen die Uraufführung eines Melodrams über den Holocaust.

Das Werk widmet sich einer eminent deutschen Thematik und kleidet sie in eine (nicht-)griechische Tragödie mit Chor, Sprechern und Sängern. Der Hamburger Komponist Jan Müller-Wieland schuf dieses Melodram „Der Reisende“ nach dem gleichnamigen Roman von Ulrich Alexander Boschwitz. Gefunden hat der Komponist das erst 2018, also genau achtzig Jahre nach dessen Entstehung, erschienene Buch, das der damals 23 Jahre alte Boschwitz 1938 (vier Jahre vor seinem Tod) unter dem Eindruck der Novemberpogrome verfasst hat, in einer Bahnhofsbuchhandlung, eben als Reisender, und Müller-Wieland war sofort fasziniert von diesem Stoff, den er zu einem eigenen Libretto formte und vertonte. Die Dresdner Philharmonie hatte ihm den Auftrag dazu erteilt. Sie brachte dieses Stück nun zum 9. November im achtzigsten Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Dresdner Kulturpalast zur Uraufführung.

Ulrich Noethen in „Der Reisende“
Ulrich Noethen in „Der Reisende“Oliver Killig

In etwa siebzig Minuten wird darin die zwölf Jahre währende Unmenschlichkeit des „Tausendjährigen Reichs“ komprimiert. Der Berliner Kaufmann Otto Silbermann und seine nichtjüdische Frau Elfriede planen ihre Flucht nach Paris, wo der Sohn Eduard bereits in Freiheit lebt und sich um ein Visum kümmern will. Seiner Verhaftung entgeht Otto nur knapp: „Aufmachen, Jude!“, wird vom Chor gebrüllt, das groß besetzte Orchester malt dazu peitschenartige Klopfgeräusche, rammende Stiefeltritte gegen die Tür. Vergebens erhofft der Verfolgte sich Hilfe vom Schwager und Geschäftspartner Willi, der ihn mit der Übernahme des Unternehmens brüskiert.

Müller-Wieland beschränkt sich im Melodram auf diese vier Figuren und hat die Handlung stark gerafft. Elektronisch eingespielte Bankomat-Geräusche unserer eigenen Gegenwart sollen den einstigen Wohlstand des Kaufmanns suggerieren, erscheinen aber schon aus historischen Gründen weniger stimmig als die Idee, Otto und Elfriede inmitten „manipulativer“ Musik nur sprechen zu lassen, weil sie in der Nazi-Diktatur nichts mehr zu sagen haben. Wer freilich was sagen müsste, soll singen.

Die Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Gergely Madaras im Dresdner Kulturpalast mit „Der Reisende“ von Jan Müller-Wieland
Die Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Gergely Madaras im Dresdner Kulturpalast mit „Der Reisende“ von Jan Müller-WielandOliver Killig

Eduard wirkt durch den silbrig zarten Tenor von Kangyoon Shine Lee so sympathisch wie hilflos, Willi hingegen wird hinterhältig gerissen vom Bariton Michael Borth gegeben. Kommentierend wie in der Antike vereinen sich der Philharmonische Chor sowie der Kammerchor Cantamus Dresden zu einer starken Klangmasse, die mal Paris und Freiheit verheißt, von feinen Soli durchsetzt ist, mal brutal befiehlt und letztlich mit „Ich bin das Visum. Mich gab es nie.“ für herbe Enttäuschung sorgt. Otto Silberstein hat alles verloren: Freiheit, Geld, Familie.

Der Schauspieler Ulrich Noethen charakterisiert diesen „Reisenden“, der sich im Unterwegssein unsichtbar machen will, an der belgischen Grenze abgewiesen wird und schließlich in einen Zelle landet, sehr anschaulich und emotional. Birgit Minichmayr als Elfriede schreitet den Spagat zwischen Sanftmut und hysterischer Angst aus – mehr ist auf konzertanter Bühne nicht zu leisten.

Auch die Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Gergely Madaras hat in großer Besetzung mit reichlich Schlagwerk viel zu stemmen. Die Musik ist schroff erzählend und bis auf wenige Zitate kaum melodiös. Sie schildert eindrucksvoll mit Tutti-Akkorden das Bedrohtsein, plauzt mit Zäsuren ins Geschehen, lullt ein mit kleinen Intervallen, Einzeltönen und Tonwiederholung, steht mit einem klangstarken Zwischenspiel sogar für die „Seelen der Möbel“, als Otto kurz in einem Hotelzimmer rastet. Bald darauf ist ihm alles genommen.

Eine sinnfällige Entsprechung der Uraufführung findet sich in einer Ausstellung der Aktion Zivilcourage Pirna unter dem Titel „Einige waren Nachbarn“ im Foyer des Kulturpalastes. Wie der falsche Geschäftspartner im Stück, so hat auch eine breite Zivilgesellschaft bei der Vertreibung, Enteignung und Ermordung von Juden mitgewirkt. Die Erinnerung daran sollte auf kein Datum beschränkt bleiben.

Source: faz.net