Regierungsbildung in Ostmark: Sie die Erlaubnis haben regieren, hingegen nicht glänzen
Herbert Kickl war mit im Raum. Nicht persönlich, aber als die Spitzen von ÖVP, SPÖ und Neos heute Vormittag in Wien ihr Programm für die neue Regierung in Österreich vorstellten, spielte der Chef der rechtspopulistischen FPÖ natürlich eine wichtige Rolle. Schließlich ist Kickl der Grund, warum die drei Parteien es im zweiten Anlauf überhaupt noch einmal miteinander versucht haben. Die ersten Verhandlungen waren kurz nach Neujahr gescheitert und die ÖVP in Verhandlungen mit der FPÖ eingetreten – die ebenfalls ohne Einigung auseinandergingen.
Die ÖVP wies die Schuld der FPÖ und einem Kickl „im Machtrausch“ zu. Am Freitag wiederholte der designierte Kanzler und ÖVP-Chef Christian Stocker den Vorwurf, ohne Kickls Namen zu nennen: „Es gab andere, die sich der Zusammenarbeit verweigert haben.“ Jeder wusste, wer gemeint war, SPÖ-Chef Andreas Babler schließlich sprach es klar aus: Er sei stolz, dass man Herbert Kickl und die FPÖ „verhindert“ habe.
Die FPÖ aus dem Kanzleramt halten, das ist die Existenzgrundlage dieser neuen Regierung in Österreich. Ein reichlich dünnes Fundament. Umso mehr mühten sich die drei Parteispitzen, ihrer Zusammenarbeit eine andere Richtung zu geben, mehr Fortschritt, mehr Optimismus. Jetzt das Richtige tun, so nennt sich das 210-Seiten-Papier, unter dem die Dreierkoalition das Vertrauen der Österreicher wieder zurückholen will. Die Neos-Vorsitzende Beate Meinl-Reisinger drückte es so aus: „Wir wissen, dass wir liefern müssen.“
Die neue Regierung startet unter erschwerten Bedingungen, einige davon sind hausgemacht: mit einem Kanzler Christian Stocker, der nie Spitzenkandidat war, sondern eine Übergangslösung, die sich gefestigt hat. Mit einem Vizekanzler Andreas Babler, der seine taumelnde SPÖ nicht im Griff hat. Und mit den Neos von Beate Meinl-Reisinger, die der hauchdünnen Mehrheit der ehemaligen Volksparteien die nötige Stabilität verleihen sollen, aber mit starkem Bauchgrummeln in die Koalition eintreten. Und dafür sogar noch eine Zweidrittelmehrheit ihrer Mitglieder einholen müssen, die am Sonntag abstimmen. Um es vorsichtig zu formulieren: Es gab schon Anfänge, denen mehr Zauber innewohnte.
Die drei Politiker an der Parteispitze, deren Augenringe von den nächtlichen Sitzungen der vergangenen Tage kündeten, versprühten trotzdem unverdrossen eine Aufbruchsstimmung. Alle drei gaben nacheinander einige Projekte für ihre Klientel bekannt: die ÖVP den Stopp des Familiennachzuges und ein Kopftuchverbot, die SPÖ eine Mietbremse und die Erhöhung der Bankenabgabe, die Neos ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr. Es sind, zumindest derzeit, klar verteilte Rollen, die auf den ersten Blick an die Zusammenarbeit der türkis-grünen Regierung erinnert. 2019 hatten sich die beiden ungleichen Partner auf das Prinzip „Das Beste aus beiden Welten“ geeinigt und Beinfreiheit für den jeweils anderen in bestimmten Bereichen vereinbart.
Law and Order für die ÖVP, Soziales für die SPÖ, Zukunftsthemen für die Neos – so ließe sich die Verteilung der Ministerien zusammenfassen: Die ÖVP hält die wichtigen Sicherheitsministerien sowie die Wirtschaftsressorts. Die SPÖ baut sich ein Superministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit. Die Neos wiederum werden für Außenpolitik und Bildung zuständig sein – und einen Staatssekretär für Deregulierung aufstellen.
Es gibt nichts mehr zu verteilen
Was bei der Lektüre des neuen Programms schnell ins Auge fällt: Viele der Maßnahmen stehen unter Budgetvorbehalt, und ausgerechnet der Staatshaushalt ist die größte Baustelle von allen. Österreich hat 2024 die Drei-Prozent-Grenze der EU gerissen, die neue Koalition will ein Defizitverfahren aber vermeiden. Ein großer Nachteil: ÖVP, SPÖ und Neos dürfen zwar regieren, aber nicht glänzen. Denn zu verteilen gibt es nichts.
Nicht gerade die beste Voraussetzung, um an Popularität zu gewinnen. Vor allem angesichts der blauen Welle, die in den vergangenen Jahren immer größer wurde, unübersehbar spätestens seit dem ersten Sieg der FPÖ bei einer Nationalratswahl überhaupt Ende September 2024. In der Zwischenzeit holte die Rechtsaußen-Partei in der Steiermark fast 35 Prozent und Platz eins – und stellte mit Mario Kunasek erstmals seit Jörg Haider einen Landeshauptmann.
Auch der Weg ins Kanzleramt schien Anfang des Jahres eigentlich frei zu sein, als die ÖVP Wien ins Chaos stürzte: Die Konservativen ließen Anfang Januar nicht nur die Verhandlungen mit SPÖ und Neos platzen, sondern auch ihren Bundeskanzler und Parteichef Karl Nehammer fallen. Der relativ unbekannte Generalsekretär Christian Stocker übernahm, angeblich sogar zu seiner eigenen Überraschung, die Partei – und die Verantwortung für den fliegenden Wechsel zur FPÖ.
Was genau die ÖVP wieder aus der Umarmung der Freiheitlichen fliehen ließ, liegt bis heute im Dunkeln. In der Version der FPÖ scheiterte es am Streit um Posten, konkret am Innenministerium. Die ÖVP wiederum verwies auf die zahlreichen roten Linien, die von Kickls Partei in den Verhandlungen überschritten worden wären, vom fehlenden Bekenntnis zur EU und zur internationalen Gerichtsbarkeit bis zur Demontage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Auch wenn nicht alle FPÖ-Spitzen einverstanden waren, dass Kickl den strategischen Vorteil nicht in eine Regierungsbeteiligung verwandeln konnte oder wollte – bis jetzt deutet nichts darauf hin, dass er seine Partei damit geschwächt haben könnte. Über ihre fünf Regierungsbeteiligungen in den Ländern haben die Freiheitlichen weiter viel Gewicht, die Umfragewerte steigen seit der Nationalratswahl weiter an und liegen konstant über der 30-Prozent-Marke.
Eine SPÖ mit Hang zur Selbstzerstörung
Von der reinen Protestpartei hat sich die FPÖ längst weiterentwickelt, trotzdem ist die Unzufriedenheit mit der österreichischen Politik Basis für ihren Zuspruch. Nur rund 40 Prozent der Befragten gaben 2024 bei einer Umfrage des Foresight Institute an, das politische System in Österreich funktioniere gut. Sechs Jahre zuvor waren es noch zwei Drittel. Auch die persönlichen Beliebtheitswerte der Regierungsspitzen bewegen sich am unteren Ende der Skala.
Und nicht nur das, auch intern sitzen Führungspersonen noch nicht fest im Sattel. Beim designierten Kanzler Christian Stocker und der ÖVP sollte das eine reine Formalie sein. Bislang steht er seiner Partei zwar nur interimistisch vor, Ende März wird er die Rolle bei einem Parteitag aber höchstwahrscheinlich auch offiziell von den Delegierten übertragen bekommen. Sein Vizekanzler Andreas Babler hingegen steht einer SPÖ vor, die in den vergangenen Jahren einen bemerkenswerten Hang zur Selbstzerstörung erkennen ließ. Auch aktuell hakt es intern: Bei der Besetzung der Ministerien besteht die mächtige Wiener Landespartei auf ihren Wünschen, und Babler fehlt auch nach fast zwei Jahren an der Parteispitze die Hausmacht, um sich dagegen zu wehren. Eine unendliche Geschichte, die auch die neue Regierung begleiten dürfte.
Bleiben die Neos, die bei den gescheiterten Verhandlungen Anfang Januar als Erste den Raum verließen. Die Begründung damals: fehlender Reformwille bei den anderen Parteien und persönliche Animositäten gegen Andreas Babler. Alles ausgeräumt, erklärte Beate Meinl-Reisinger am Donnerstagvormittag. Trotzdem könnte ihre Partei die Einigung noch torpedieren: Am Sonntag sind die rund 3.000 Mitglieder eingeladen, das Arbeitsprogramm abzusegnen, es braucht eine Zweidrittelmehrheit. Schon jetzt gibt es vereinzelten Widerstand, so wie den Tiroler Landesvorsitzenden Dominik Oberhofer, der mit Nein stimmen will. Eine Niederlage von Beate Meinl-Reisinger wäre zwar eine große Überraschung. Aber beileibe nicht die erste in Österreich in den vergangenen Monaten.