Regierung in Frankreich: „Frankreich hört nicht mehr auf seine Intellektuellen“

DIE ZEIT: Was ist los nebenan, im schönen Frankreich? Die Meldungen von Rücktritten, die rückgängig gemacht werden, von angekündigten Misstrauensanträgen und Amtsenthebungsverfahren wirken grotesk. Dreht die französische Demokratie gerade durch?

Corine Pelluchon: Zugegeben, das Chaos ist eindrucksvoll, aber ich halte es für riskant, deshalb zu sagen, es sei mit der Demokratie vorbei. Was uns in Frankreich bedrängt, bedrängt in Europa viele, wir unterscheiden uns aber danach, wie und ob wir den Problemen ins Auge sehen. Politiker und Gesellschaft nehmen noch nicht ernst genug, was für eine gesunde Demokratie unabdingbar ist: Kompromisse zu erreichen und nicht auf dem eigenen Maximalprogramm zu beharren. Demokratie heißt, nicht um jeden Preis den politischen Prozess unter der eigenen Kontrolle haben zu wollen, sondern die offene Ungewissheit zu akzeptieren. Aber das ist keine französische Spezialität. Auf der extremen Linken wie auf der Rechten klammert man sich an Prinzipien fest. Auch Macron klammert, er hält stur am etablierten Personal fest. Die politischen Eliten sind in sich verkämpft und verkrampft.

ZEIT: Und woran klammert sich die Gesellschaft fest, der Souverän, der sich nun in seinem Wahlverhalten nach rechts neigt?

Pelluchon: Viele Bürgerinnen und Bürger halten Frankreich inzwischen für die Hölle, l’enfer, obwohl unsere Lebensbedingungen im europäischen Maßstab relativ gut sind, denkt man nur an das Rentenalter oder den Immobilienbesitz. Wir sind eine reiche Gesellschaft. Zwischen der sozialen Realität und dem Empfinden dieser Realität tut sich eine Kluft auf. Hingegen will man die eigentlich bedrohlichen Wirklichkeiten kaum wahrnehmen: Die ökonomischen Schwierigkeiten der Verschuldung und der reale Klimawandel, der sich im Süden in dramatischen Extremwettern zeigt, scheinen als Probleme übermächtig groß. Zu groß. Man will sich vor der Angst schützen, es gebe kein Morgen mehr, und sperrt sich in der eigenen kleinen Welt ein.

ZEIT: Woran fehlt es?

Pelluchon: Es fehlt uns an Reife. Wir tun uns schwer damit, unsere eigenen Grenzen und Zwänge anzuerkennen. Eine reife Gesellschaft wüsste um ihre Begrenztheiten. Reif in diesem Sinne können nur Demokratien sein. Sie können sich selbst inventarisieren und fragen: Was wollen wir bewahren, worauf können wir verzichten?

ZEIT: Das klingt stark nach dem inzwischen ziemlich alten Kant, der vom Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit sprach. Lange her. Was ist das heute, eine mündige oder reife Gesellschaft?

Pelluchon: Sie hat einen Sinn für das Tragische, sie besitzt eine Weisheit des Tragischen, wie es der Philosoph Paul Ricœur ausgedrückt hat, der gar nicht veraltet ist, sondern unser Zeitgenosse, dessen Assistent Präsident Macron ja als junger Mann war. In der antiken Tragödie von Sophokles haben Antigone und Kreon beide darauf bestanden, die Wahrheit nur auf der eigenen Seite zu wissen und den anderen als Gegner zu sehen. Ricœur aber entgegnet: Den Widerspruch trägt jeder in sich. Eine Lösung muss jenseits des Dogmatischen liegen.

ZEIT: Was kann das politisch heißen, im gegenwärtigen französischen Chaos?

Pelluchon: Politisch würde das bedeuten, sich für demokratische Experimente durch Kompromisse zu öffnen. Das heutige Deutschland hat aufgrund seiner Schuld am Holocaust diesen Sinn für das Tragische – und ist kompromissfähig geworden. Die Erfahrung des Tragischen führt einem die eigenen Grenzen vor Augen. Die Notwendigkeit kluger Selbstbeschränkung. Eine reife Gesellschaft bedeutet, dass man von der Endlichkeit ausgeht, von Zwängen, von planetarischen Grenzen, dass man das Wertvolle schätzt.

ZEIT: Was unterscheidet die beiden Nachbarn?

Pelluchon: Frankreich benimmt sich wie ein verwöhntes Kind, das dauernd damit nervt, alles sofort haben und auf nichts verzichten zu wollen. Das Land lebt noch von seiner stolzen Geschichte eines Universalismus, der weit in die Welt geleuchtet hat. Jede Dorfkirche zeugt von dem kulturellen Rang und der Schönheit des Landes. Heute aber ist Frankreich ökonomisch und geopolitisch zu schwach für die Illusion, besonders wichtig zu sein. Eine reife demokratische Gesellschaft hätte zuerst die Frage nach der Organisation der Arbeit gestellt, die unter den aktuellen Managementbedingungen bisweilen untergraben wird, bevor sie sich auf das Renteneintrittsalter konzentriert. In einer reifen Demokratie würden nicht dauernd alle wiederholen, dass sie an ihren Maximalforderungen festhalten. Sie würden von ihnen lassen, um das Wesentliche bewahren zu können: eine Demokratie, deren Stärken in der Kultur liegen und die ökologisch befriedet wäre.