„Reformen“ | Neoliberalismus in welcher Politik: Wie die Regierung den Sozialstaat demontiert
Ja, da haben sich fast alle gefreut rund um Ministerien und Parteizentralen: Kaum war die Sommerpause vorbei, lieferten sich Union und SPD zwar erst noch ein kleines Wortgefecht – Friedrich Merz, Bundeskanzler (CDU), erklärte den Sozialstaat für „nicht finanzierbar“, während Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) dies als „Bullshit“ abtat. Aber dann reichten sich alle die Hand, boten sich das „Du“ an – abgesehen von Bayerns Söder (CSU), der lieber siezt – und versprachen, was den Deutschen nach Ansicht großer Teile der veröffentlichten Meinung am liebsten ist: Ruhe.
Kurz zusammengefasst, funktioniert diese Ruhe so: Die Koalitionsparteien behalten ihre unterschiedlichen Auffassungen, soweit noch vorhanden, für sich, jedenfalls in der Öffentlichkeit. Hinter verschlossenen Türen basteln sie an Kompromissen, die sie dann in friedvoller Einigkeit der Welt verkünden. Man nennt das „geräuschlos regieren“, und meistens ist das positiv gemeint – ein Begriff, der so klingt, als sei der Verzicht auf öffentlichen Streit kein Verlust für die Demokratie. Dabei lebt diese doch vom offenen Disput über Ziele und Ideale.
Koalitionen als Schweigekartelle, Verkündung statt Diskurs: Es scheint fast schon weitgehend Konsens zu sein, dass dies der beste Weg zum Gewinnen von Vertrauen in einer Gesellschaft sein soll, die den Kontakt zu ihren Repräsentantinnen und Repräsentanten zunehmend verliert.
Einen Hauch von öffentlichem Disput gibt es zwar noch beim Thema Steuergerechtigkeit: Hier setzt selbst der rechte Flügelmann der SPD-Spitze, Lars Klingbeil, noch eigene Akzente und fordert mehr Beteiligung der Reichsten an der Staatsfinanzierung. Doch ohne Reformwillen und die Bereitschaft, notfalls die Koalition infrage zu stellen, bleibt das folgenlos. Aber noch düsterer sieht es beim Thema Sozialstaat aus, einer zentralen Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Hier scheint die SPD der Abbau-Logik von Merz zu folgen, der den Sozialstaat als rückwärtsgewandtes Modell betrachtet.
Merz klingt wie einst Herzog
Genau genommen sind es zwei rückwärtsweisende Elemente, mit denen die konservativ-kapitalistische Variante des Teams Merz den Krisen des fossilen Kapitalismus begegnet.
Da ist zum einen die Fixierung auf Wachstum, dessen Treibstoffe sowohl aus klimaschädlichen Rohstoffen wie zum Beispiel Gas bestehen (siehe die „Klimapolitik“ der CDU-Wirtschaftsministerin Katherina Reiche) als auch aus Milliardengeschenken an Unternehmen – verbunden mit der vielfach widerlegten Behauptung, sie würden zu massiven Investitionen und zu einem Wachstum führen, das allen dient. Wer die 1997 gehaltene „Ruck-Rede“ des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog nähme und per künstlicher Intelligenz von einem Merz-Avatar vortragen ließe, könnte den Text glatt für einen „echten Merz“ halten: Der Bundeskanzler des Jahres 2025 ist ideologisch ziemlich genau auf dem Stand des Staatsoberhauptes von vor knapp 30 Jahren.
Und was den Wachstumsfetisch betrifft, verbunden mit der Erzählung vom Sozialabbau als Rettung der Staatsfinanzen, wäre hinzuzufügen: Spätestens seit Gerhard Schröder ist die SPD hier gefährlich nahe dran – auch wenn ihr zuzugestehen ist, dass sie gegen die eine oder andere Verschärfung noch aufmuckt.
Womit wir bei dem zweiten Element rückwärtsgewandter Krisenpolitik wären, der ideologischen Einkleidung der realen Politik: Sie besteht darin, so ziemlich jede Beschwernis denjenigen anzuhängen, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind.
Das ist nicht neu. Aber es ist erschreckend, wie „gut“ es immer noch funktioniert. Mit freundlicher Unterstützung einer SPD, die sich gern wieder als „Arbeiterpartei“ inszenieren möchte. Diejenigen, die durch die Raster des Arbeitsmarkts gefallen sind, gehören für sie offenbar nicht (mehr) dazu – zumal dann nicht, wenn sie nicht bereit sind, jeden noch so miesen Job anzunehmen.
Die SPD findet den Abbau des Sozialstaates „schmerzhaft“, aber dagegen ist sie nicht
Natürlich drücken sich die sozialdemokratischen Mitglieder des Abbau-Trupps nicht immer so unverhohlen aus wie CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der es als „Kern des Kerns“ sogenannter Reformen beschreibt, den „Totalverweigerern“ das bisschen Bürgergeld ganz zu streichen. Sie reden lieber (wie der als linker Sozialdemokrat gelabelte SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch) von „Einschnitten“, die „für meine Partei schmerzhaft“ sein könnten. Aber dagegen sind sie nicht.
Natürlich wissen alle Beteiligten, dass die Zahl der „Totalverweigerer“ verschwindend gering ist: Selbst die Größenordnung von 23 000, die immer wieder genannt wird, umfasst alle Sanktionen wegen Ablehnung von Arbeitsangeboten im Jahr 2024. Die Zahl der vorübergehenden Komplettstreichungen des Bürgergelds (sie sind unter bestimmten Bedingungen auch jetzt möglich) lag nach neuen Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zwischen April 2024 und März 2025 im – kein Schreibfehler! – „niedrigen zweistelligen Bereich“.
Es ist deshalb Zeit, auf den vielleicht absurdesten Aspekt des Modells Merz hinzuweisen: Die Propaganda gegen die von staatlichen Leistungen Abhängigen dient gar nicht mehr, jedenfalls nicht mehr vorwiegend, einer radikalen Verschiebung realer Haushaltsmittel vom Sozialen zu Steuergeschenken für Reiche, Rüstungsausgaben oder Autobahnbau. Nicht, dass Merz und Co. davon Abstand genommen hätten, für all diese Dinge haben sie sehr viel Geld. Aber selbst der Kanzler hat ja die Zahl genannt, die die Einsparungen beim Bürgergeld zu einer rein symbolischen Größe macht: fünf Milliarden Euro. Ein Tropfen im Haushalt.
Disziplinierung statt Reform
Der Verdacht liegt also nahe: Zumindest soweit es das Bürgergeld betrifft, kann der Sozialetat spätestens seit Hartz IV in der Realität schon gar nicht mehr als Melkkuh des Staatshaushalts funktionieren. Der Ansatz, dem seine demagogische Herabwürdigung dient, ist ein wesentlich umfassenderer.
Wenn nicht alles täuscht, haben Merz und Gleichgesinnte richtig erkannt, dass sie die Verunglimpfung Arbeitsloser zur Disziplinierung einer verunsicherten Gesellschaft weit über die von Sozialleistungen Abhängigen hinaus brauchen. SPD-Kanzler Gerhard Schröder glaubte noch, dass die Härte gegen Arbeitslose und die Förderung des von ihm gepriesenen Niedriglohnsektors reale ökonomische Effekte haben würden, auch wenn das seine neoliberale Politikwende nicht besser machte. Bis heute hält sich die nicht belegbare Annahme, die Agenda 2010 des SPD-Kanzlers habe für den dann folgenden Wirtschaftsaufschwung gesorgt.
Doch Friedrich Merz kann, falls er tatsächlich etwas von Wirtschaft versteht, nicht glauben, was er behauptet: dass der Sozialstaat nur durch Einschnitte zu erhalten sei. Es wird auch nicht wahrer, wenn ein aus dem rechten Flügel der SPD stammender Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier es sinngemäß fast identisch behauptet, wie gerade am Dienstag dieser Woche geschehen.
Was angesichts dieser Disziplinierungs-Rhetorik erstaunen muss, ist die Ruhe in der gesellschaftlichen Mitte. Sie hat eigentlich keinen Grund, an die Behauptung zu glauben, dass sie bei Fortsetzung der jetzigen Politik der Reformverweigerung an wirklich relevanten Stellen verschont bleiben wird. Man müsste nur die 50 000 Beschäftigten der Automobilindustrie fragen, die zuletzt dem Zuschauen der Verantwortlichen beim Durchmarsch Chinas in Richtung Elektromobilität laut einer Studie zum Opfer gefallen sind. Dennoch wählt die Mitte eine Politik, die es für ihre zentrale Aufgabe hält, am oberen Ende zu streicheln und nach unten zu treten.