Reformen | Kürzen, Streichen und Austeilen: Friedrich Merz hat vereinigen Masterplan pro den Sozialstaat
Die deutsche Wirtschaft schwächelt, und Friedrich Merz begegnet diesem Problem mit Lösungsversuchen aus den 2000er Jahren. Dahinter könnte eine perfide Taktik stecken
Ein Besucher greift sich eine signierte Postkarte von Friedrich Merz beim Tag der offenen Tür im Kanzleramt
Foto: Omer Messinger/Getty Images
Eins muss man dem Bundeskanzler ja lassen: Die „Brandmauer“ steht einstweilen, wenn auch aus keinem guten Grund. Die Art und Weise, wie sich Friedrich Merz gerade erst wieder gegen den „größten Kriegsverbrecher unserer Zeit“ positioniert und eine Art Führungsrolle in einem riskanten Stellvertreterkrieg unklarer Dauer und Zielsetzung in der Ukraine beansprucht hat, macht eine schwarz-blaue Koalition einstweilen schwer denkbar. Denn obwohl – siehe Donald Trump – rechtspopulistische Parteien eine erstaunliche Flexibilität auch bei politischen Kernthemen an den Tag legen, kann man sich schwer vorstellen, wie sich AfD-Promis hinter eine solche Agenda stellen.
Das war es aber schon an guten Nachrichten. Wenn Merz so weitermacht und handelt, werden Schreckmomente wie die jüngste 39-Prozent-Umfrage für die AfD in Sachsen-Anhalt in der Fläche zum Realzustand. Zwar scheint der Berliner Falke immerhin so weit zum Realismus gefunden zu haben, dass er anerkannte, es sei gerade „schwierig“, eine Wende in dem Krieg herbeizuführen. Aber was ihm stattdessen vorschwebt, wäre der perfekte Rückenwind in den blauen Segeln: eine Agenda der dauerhaften Krise und Verunsicherung.
Festmachen lässt sich diese Sorge an dem strategischen Ausblick, den Merz anbietet: An seinem Plädoyer für „Sekundärsanktionen“ gegen Handelspartner Russlands, um längerfristig dessen Militärindustrie zu brechen, ist zweierlei bemerkenswert. Erstens der Zeitpunkt: direkt im Anschluss an jenen Gipfel der Shanghai-Organisation, auf dem Staatschefs, die gut 40 Prozent der Weltbevölkerung vertreten, abermals demonstrierten, dass sie sich solchen Strafmaßnahmen nicht beugen wollen.
Und zweitens die Sprechposition: Anders als die USA, die das Copyright auf diese Erpressungspose haben, ist Deutschland noch immer eine Exportnation. Auch wenn – von China und Indien abgesehen – die Shanghai-Staaten handelspolitisch nicht so ins Gewicht fallen mögen, wird das dem taumelnden Wirtschaftsmodell der Bundesrepublik nicht zuträglich sein.
Sozialabbau als Dauerlösung
Vor allem aber gibt es seitens der Bundesregierung wenig Anzeichen für einen ernsthaften Versuch, das außenwirtschaftliche Schwächeln binnenökonomisch aufzufangen. Die mögliche Konjunkturwirkung des Aufrüstungs- und Infrastrukturprogramms wird dadurch erheblich abgeschwächt, dass ein großer Teil der Rüstungsgelder in die USA abfließt. Was also ist der Plan B? Die Merz-Regierung hat anscheinend keinen. Alles, was ihr einfällt, ist Kürzen, Streichen und Austeilen, selbstverständlich nach unten. Wobei dieses Wort ja zunehmend Normalverdienende beschreibt.
Befällt in Kanzleramt und SPD-Zentrale eigentlich noch jemanden der Gedanke, dass jeder Euro, der im „Sozialen“ nicht ausgegeben wird, am Ende nicht imaginierten Faulpelzen, Verlierern und Versagern fehlt, sondern dem Einzelhandel um die Ecke? Ist man sich klar darüber, wie es aussieht, wenn in Kiew Milliardenzusagen gemacht werden und zugleich die Medien voll sind mit all dem, was „wir“ uns „nicht mehr leisten“ können?
Der Furor des Kahlschlags ist verhängnisvoll. Erstens sicherheitspolitisch, weil in einem sich transformierenden Weltsystem nicht wirtschaftliche Effizienz die Maxime sein sollte, sondern ökonomisch-soziale Resilienz: Wer sich den Staat als Festung vorstellt, muss doch bemüht sein, dass innerhalb der Mauern die Dinge funktionieren.
Und zweitens gesellschaftspolitisch, weil klar ist, wer unter gegenwärtigen Bedingungen von der Wut und Verunsicherung profitieren wird: Weniger eine Linke, die zwar gegen Wehrpflicht, Hochrüstung und Sozialabbau eintritt, aber unter dem Glaubwürdigkeitsproblem leidet, sich nicht zu einem klaren Bekenntnis durchringen zu können, den Krieg, der ja Vater der Misere ist, zu realistischen Bedingungen beenden zu wollen. Sondern die Rechte – obwohl die keinerlei Absicht oder gar gangbaren Plan hat, die zerbröselnden Strukturen dieses Landes zu reparieren, sondern bloß auf die üblichen Sündenböcke zeigt.
Taktikspielchen
All das erscheint so absehbar als Katastrophen-Rezept, dass es fast schwer wird, einer Frage auszuweichen: Ist das am Ende nicht der Plan? Hantiert hier also eben nicht ein staatspolitisch unerfahrener, aber ideologisch gefestigter Kanzler mit außen- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen aus den 2000er-Jahren – sondern macht sich ein gewiefter Taktiker daran, die momentane Kriegsstimmung dazu zu nutzen, die Reste des Sozialstaats loszuwerden, den er schon immer schleifen wollte? Geht es also gar nicht zuerst um die „Freiheit der Ukraine“ und den Krieg selbst, sondern vor allem um ein ganz anderes Deutschland?
Hypothetisch weiterspinnen lässt sich dieses Szenario zumindest: Nach einem oder zwei weiteren Jahren allgemeiner Beklemmung und Panik könnte der Widerstand gegen diese Agenda erschöpft sein – und der Krieg sich derweil anderweitig erledigt haben, ohne Zutun der Deutschen. Damit aber wäre dann auch das einzige Thema erledigt, das derzeit als wirkliche emotional-politische Mauer zwischen Schwarz und Blau steht. Bliebe dann nur noch die Frage, wer von beiden Koch ist und wer Kellner. Aber was das angeht, verfügt die Union ja schon immer über ein starkes Selbstbewusstsein.