Reformagenda: Was Friedrich Merz von Margaret Thatcher lernen könnte

Angesichts der deutschen Wachstumsschwäche und des Niedergangs der Industrie hoffen viele Bürger auf einen politischen Ruck und echte Reformen, die eine Wende einleiten. Was eine radikale Reformagenda ist, hat einst Margaret Thatcher in Großbritannien demonstriert, deren hundertster Geburtstag nun ansteht. Die Premier­ministerin war eine „konservative Revolutionärin“, die den politisch-ökonomischen Konsens der Siebziger­jahre sprengte, der wie Mehltau über der Insel lag. Ihr Ziel war es, das Land nach den Jahren des Niedergangs wieder auf die Erfolgsspur zu bringen.

Gegen schmerzhafte Reformen gibt es üblicherweise Widerstände. Lobbygruppen und Vetospieler erheben Einspruch, wenn man Besitzstände, Privilegien und Ansprüche beschneidet. Der amerikanische Politökonom Mancur Olson hat in seinem Buch „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ vor vierzig Jahren dargelegt, warum Länder in eine lähmende Stagnation und Verkrustung geraten können. In langen Friedenszeiten wachsen kartellähnliche Interessengruppen und Umverteilungskoalitionen. Man versucht, nur noch auf Kosten anderer zu leben.

Gewerkschaften als Gegenspieler

In der Zeit von Thatcher waren die mächtigsten Vetospieler die Branchengewerkschaften. Sie kämpften für die Sonderinteressen ihrer Arbeiter in den vielen staatsnahen oder verstaatlichten, ineffizienten Indus­trien. Hohe Lohnforderungen, mit rabiaten Streiks durchgesetzt, heizten die Inflation an. Mit einer verfehlten keynesianischen Konjunkturpolitik erzeugte der Staat nur steigende De­fizite und Schulden. Die Wirtschaft wuchs kaum noch, das Land litt an „Stagflation“. Thatcher hat nach 1979 die Macht der Gewerkschaften gebrochen, Staatsunternehmen privatisiert, den Finanzplatz dereguliert, damit Strukturwandel und neues Wachstum ermöglicht. Ihre Reformen waren schmerzhaft, aber wirkungsvoll.

Mancur Olson betonte, dass tiefgreifende Reformen oft nach tiefen Krisen oder militärischen Nieder­lagen gelingen, weil diese die Macht der Besitzstandswahrer schwächen. Ludwig Erhard hat 1948 zugleich mit der Währungsreform sämtliche Preiskontrollen aufgehoben – gegen den wütenden Protest der Gewerkschaften, die sogar zum Generalstreik aufriefen. Zudem wurde die alte kartellhafte Struktur der Industrie beendet und mehr Wettbewerb entfacht. Die Bundesrepublik erlebte in der Folge ein „Wirtschaftswunder“.

In Preußen ergriffen nach der Niederlage gegen Napoleon 1807 die Reformer um Stein und Hardenberg die Gelegenheit zur Erneuerung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie überwanden Strukturen des Feudalismus und des Zunftwesens, befreiten die Bauern, ermöglichten Gewerbefreiheit, reformierten das Heer. Das legte den Grundstein für den Wiederaufstieg Preußens.

Eine schwache Koalition disparater Partner

Oft erzeugt erst ein großer Leidensdruck die Konstellation, in der Radikalreformer Widerstände durchbrechen. Die Argentinier hätten vor zwei Jahren nicht Javier Milei gewählt, wäre ihr Land nicht durch galoppierende Inflation und wieder­holte Staatsbankrotte zerrüttet gewesen. Milei hat die Inflation gebändigt, die Bürokratie „per Kettensäge“ beschnitten, mit rabiater Sparpolitik den Staatshaushalt saniert. Wirtschaftlich hat er in kurzer Zeit beachtliche Erfolge erzielt; ob er sich politisch halten kann, steht auf einem anderen Blatt.

In Großbritannien war in den späten Siebzigern ein so akutes Krisenbewusstsein in der Mittelschicht gewachsen, dass sich die Bürger eine radikale Reformerin wählten. Im Un­terschied zum deutschen Verhältnis­wahl­recht schafft das britische Mehr­heitswahlrecht meist sehr klare Re­gie­rungsmehrheiten. Thatcher konnte „durchregieren“.

Die Regierung Merz basiert auf einer schwachen Koalition zweier disparater Partner. Statt großer Reformen schließt man kleine, halb gare Kompromisse. Trotz aller Klagen über zu hohe Energiekosten und Industrieniedergang, überbordende Bürokratie und Regulierung, hohe Steuern, Einwanderung in den Sozialstaat und die demographische Überlastung der sozialen Sicherungssysteme: Man sieht bislang keine Wende.

Das liegt auch daran, dass mächtige Interessengruppen bremsen, etwa die subventionshungrige Erneuerbare-Energien-Lobby, die Sozialverbände, die Asylindustrie, der Wählerblock der (künftigen) Rentner. Alle sträuben sich gegen Veränderungen. Eine wirkliche Wende würde eine geeinte, entschlossene Regierung erfordern. Offenbar sind der Problem- und der Leidensdruck noch nicht groß genug, damit Mut für große Reformen entsteht, die den Niedergang des Landes aufhalten.