„Raus aus dieser Bildungsfalle“: Das Schulsystem am Abgrund
Den Schulen und der Bildung in Deutschland geht es schlecht. Wie schlecht, weiß der Soziologe Tim Engartner zu berichten
Vor einem Computer, dem „mechanischen Lehrer“, bearbeitet ein elfjähriges Mädchen ganz allein individuell gestaltete Lernaufgaben. Kontakt zu anderen Kindern gibt es nur außerhalb der „Schulzeiten“. In einem alten Buch hat es gelesen, dass das einmal anders war. Damals, so stellt sich das Kind vor, machte das Lernen Spaß.
In seiner Kurzgeschichte The Fun They Had entwarf der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov bereits 1951 die Dystopie eines technologiegesteuerten Bildungssystems, zwei Jahrzehnte bevor das „programmierte Lernen“ zur kurzlebigen didaktischen Mode wurde. Ältere werden sich noch an die Sprachlabore erinnern, mit denen in den 1970er Jahren individualisierte Fremdspracheninstruktion ermöglicht werden sollte. Bald aber verstaubten die teuren technischen Geräte und die aufwendig ausgestatteten Räume wurden vor allem für Klassenarbeiten genutzt. Doch der Traum von selbstgesteuerten Lernprozessen war noch nicht vorbei. Im Gegenteil. Zumal die technischen Voraussetzungen inzwischen vorhanden sind. Was Asimov für das Jahr 2157 imaginierte, ist mehr als ein Jahrhundert früher schon überholt. „Digitalisierung“ heißt das Zauberwort, das seit mindestens einem Jahrzehnt eine grundlegende Rekultivierung unserer Bildungslandschaft verspricht.
Falsch, sagt der Kölner Sozialwissenschaftler Tim Engartner in seinem Buch Raus aus der Bildungsfalle. Die flächendeckende Ausstattung von Schulen mit Informationstechnologie würde, wenn sie finanziell überhaupt zu stemmen sei, keines der zahlreichen Probleme, mit denen unser Schulsystem zu kämpfen hat, lösen. Doch bevor er sich im kritischen Detail den bildungsökonomischen Aspekten der Digitalisierung widmet, liefert Engartner eine Bestandsaufnahme des verheerenden Zustands der vormaligen „Bildungsrepublik Deutschland“. Immer mehr Kinder verlassen die Grundschule als funktionale Analphabeten und sind nach Abschluss der Sekundarstufe kaum ausbildungsfähig.
Die Ausrichtung von Bildungsinhalten und Unterrichtsformen an den vermeintlichen Bedürfnissen der Arbeitswelt hat offenbar das Gegenteil des Erwünschten zur Folge. Aber auch das Abitur kann längst nicht mehr als „Allgemeine Hochschulreife“ gelten. Denn obwohl die Durchschnittsnoten immer besser werden, ist es um die Studierfähigkeit der jungen Menschen schlecht bestellt, wie die steigende Zahl der Studienabbrüche belegt. Dass Engartner unter diesen Umständen für einen neu interpretierten Bildungsbegriff im Sinne Wilhelm von Humboldts plädiert, wundert nicht. Die Auffassung des preußischen Schulreformers (1767 – 1835), dass es „schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen“, gebe, sei gerade angesichts der Vereinnahmung von Bildung durch ökonomische Interessen hochaktuell.
Wie die aussieht, schildert der Autor plastisch am Beispiel der weltweit operierenden Technologiekonzerne, die ihre Produkte gerne Schülerinnen und Schülern zur Verfügung stellen. Natürlich nicht kostenlos, auch wenn es manchmal auf den ersten Blick so aussieht. Denn wer beispielsweise die Lernplattform von Marc Zuckerbergs sozialem Netzwerk Meta (Facebook, Instagram etc.) nutzt, zahlt mit seinen Daten. Auch Google, sehr aktiv in der Fortbildung von Lehrkräften, agiert natürlich nicht uneigennützig im Bildungssektor. Die Auswirkungen auf den Lernerfolg sind allerdings zweifelhaft. Ein „positiver Effekt auf die fachlichen Leistungen von Lernenden“ durch „den schulischen Einsatz digitaler Medien“ lasse sich nicht feststellen, zitiert Engartner internationale Metastudien.
Am beharrlichen Lernen, am besten ganz analog mit Buch und Heft, führt also kein Weg vorbei, wie man in Schweden erst unlängst wiederentdeckt hat, um folgerichtig den Gebrauch von Tablets im Unterricht nur noch für ältere Kinder ab zwölf zuzulassen. Bis es in Deutschland so weit ist, kann es dauern. Schließlich verzögert die föderale Struktur der Schullandschaft eine einheitliche Bildungspolitik. Ein Komplettverbot internetfähiger Geräte in Schulgebäuden, wie es im zentralistisch regierten Frankreich bereits seit 2018 gilt, wäre bei uns nur schwer durchzusetzen. Dass der bundesrepublikanische Föderalismus für Tim Engartner eine „Stolperfalle“ auf dem Weg zu einer grundlegenden Verbesserung unseres Bildungssystems darstellt, versteht sich.
Auch in anderen Bereichen fällt die Diagnose des Autors vernichtend aus. Von der unzureichenden Finanzierung der Kitas über den maroden Zustand der schulischen Infrastruktur bis hin zu familiären Erziehungsversäumnissen reicht die Mängelliste. Auf die Herausforderung in unseren Schulen durch die wachsende Anzahl von Kindern, in deren Elternhäusern kein Deutsch gesprochen wird, sei bislang keine konstruktive Antwort gefunden worden. Und das in einem Bildungssystem, das sich seit jeher durch eine ungerechte Verteilung der Chancen auszeichne. All das zu ändern, erfordert eine gewaltige Kraftanstrengung. Engartners „Forderungen für eine Renaissance der Bildung“, zehn an der Zahl, sind berechtigt und nachvollziehbar, aber wohl schwer zu realisieren.
Denn sie kosten fast alle sehr viel Geld und würden zudem ein vernunftgesteuertes Umdenken jenseits von Partikularinteressen erfordern. Manches wäre schon gewonnen, wenn die Vorstellung, die Qualität einer Schule ließe sich an der Anzahl vorhandener digitaler Endgeräte messen, in das Reich des Aberglaubens verabschiedet würde. Erfolgreiches schulisches Lernen ist ein komplexer zwischenmenschlicher Prozess. Und dieser erfordert ein Milieu, das zur Anstrengung ermutigt, wie schon die traurige Heldin in Asimovs Kurzgeschichte ahnte. Dass davon leider immer weniger die Rede sein kann, bleibt die bittere Bilanz dieses engagierten Plädoyers für eine bildungspolitische Neuorientierung, dessen Lektüre auch den Entscheidungsträgern in der Kultusbürokratie dringend empfohlen sei.
Raus aus der Bildungsfalle. Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden Tim Engartner Westend 2024, 239 S., 25 €
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