Rassemblement National: Mehr wie eine süffige Familienstory

Etwas lässt den Führer der französischen Rechten an diesem Februarabend zögern. Mehrere Zehntausend Demonstranten haben sich in der Innenstadt von Paris versammelt. Erzürnt von den Korruptionsskandalen der vergangenen Monate, wollen sie die linksliberale Regierung stürzen. Bereits am Nachmittag war es zu ersten Scharmützeln mit der Polizei gekommen, mit Einbruch der Dunkelheit entlädt sich die Wut in wilden Straßenschlachten, und als gegen Mitternacht rechtsextreme Militante aufmarschieren, fallen die ersten Schüsse. Doch kurz vor dem entscheidenden Angriff auf das Palais Bourbon, dem Sitz der französischen Nationalversammlung, zieht Colonel François de La Rocque, Anführer der rechtsextremistischen Liga Croix de Feu, der „Feuerkreuzler“, seine Männer zurück.  

Dieser 6. Februar 1934 ist ein Schlüsselmoment in der Geschichte Frankreichs. Dass der faschistische Umsturz damals ausblieb, gilt bis heute meist als Beleg für die Widerstandskraft der französischen Republik, für ihre „immunité“ gegen den Faschismus. Dabei ist die wichtigere Lehre aus dem abgebrochenen Parlamentssturm eine andere: Die extreme Rechte in Frankreich ist weit mehr als ein Familienprojekt der Le Pens. Ihre Geschichte ist lang und erfolgreich, und wer den heutigen Rassemblement National und seine Strategie verstehen will, sollte eher auf jenen Tag vor über 90 Jahren zurückschauen als ständig auf Jean-Marie, Marine und ihre Nichten und politischen Ziehsöhne.

Die Le Pens bieten Frankreich seit Jahrzehnten eine rechtsextreme Politikseifenoper in mehreren Staffeln. Wie so viele wichtige Familien des Landes tragen auch die Le Pens ihre Konflikte gern öffentlich aus. Am liebsten in den Hauptnachrichten der französischen TV-Sender. Aufsteigermythos, Wir-gegen-die-Eliten-Inszenierung, große Gefühle: Die süffige Familienstory verdeckt die tiefen Wurzeln des Rechtsextremismus in Frankreich.

Das Land, das sich selbst und anderen als Inbegriff von Republikanismus und Bürgersinn gilt, ist seit der Neuzeit ebenso durch rechte und reaktionäre Kräfte geprägt. Durchs späte 18. und ganze 19. Jahrhundert ziehen sich die erbitterten Kämpfe zwischen Republikanern und Monarchisten. Für Teile der extremen französischen Rechte steht das konterrevolutionäre, katholische Königshaus bis heute für das wahre Frankreich. Auch der alte Le Pen findet sein persönliches Vorbild in den Umbruchjahren nach 1789: Georges Cadoudal, ein Monarchist und Gegner der Französischen Revolution, guillotiniert wegen eines versuchten Attentats auf Napoléon Bonaparte. „Vive le roi!“ sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Hundert Jahre später erschüttert die Dreyfus-Affäre die Dritte Republik. Der jüdische Offizier Alfred Dreyfus wird aus antisemitischen Motiven fälschlicherweise wegen Landesverrats verurteilt und auf eine Insel verbannt. Intellektuelle und Schriftsteller wie Émile Zola („J’accuse!„) verteidigen ihn. In Paris wüten tagelang Straßenschlachten. Das Land spaltet sich in Pro- und Anti-Dreyfusards, und die neue rechtsextreme Action française mischt heftig mit: In ihr versammeln sich Antisemiten, Monarchisten, Nationalisten und Katholiken. Ihre Schlägertrupps, die Camelots du roi, haben es auf Juden, Freimaurer, Protestanten und Ausländer abgesehen.

Strategisches Kalkül

Das waren die Vorarbeiten, auf die François de La Rocque aufbauen konnte. Jener Mann, der 1934 vor den Gittern des Parlaments gerade noch Halt machte. Was war es, was ihn damals zögern ließ?

Nicht etwa Panik, sondern strategisches Kalkül. La Rocque erkannte, dass der Weg zur Macht für ihn nicht über die Gewalt auf der Straße, sondern über Mäßigung führen würde. Er setzte sich von den Schlägertrupps ab und formte stattdessen 1936 aus seiner rechtsextremen Liga die erste Massenpartei Frankreichs: den Parti social français (PSF). Bis zu 1,2 Millionen Mitglieder hat der PSF zeitweise, mehr als die kommunistische Partei. Nicht nur wegen ihrer Größe und historischen Bedeutung ist die PSF interessant. Sondern vor allem wegen der eklatanten Parallelen zum Rassemblement National.