Rasenmähen wie Computerspiel: „Nach 30 Minuten hatte ich dasjenige Gefühl, ich sterbe“
Es gibt die Theorie, dass Videospiele nichts weiter als Eskapismus vom Alltag sind. Wo sonst kann man so tun, als sei man Mitglied einer Spezialeinheit der US Marines (Call of Duty), ein heldenhafter Öko-Krieger, der eine zwielichtige Firma daran hindert, die spirituelle Energie eines Planeten auszubeuten (Final Fantasy) oder ein Fußballmanager (Football Manager) – und das alles bequem vom Sofa aus?
Aber es gibt auch das Gegenstück dazu: Sie heißen Farming Simulator, PowerWash Simulator, Euro Truck Simulator. Auch diese Spiele, in denen man als Landwirt, Angestellter einer Hochdruckreinigungsfirma oder Lastwagenfahrer tätig ist, sind extrem erfolgreich und stellen das Konzept auf den Kopf, interaktive Unterhaltung sei etwas, nun ja, Aufregendes. Neu in dieser Riege ist das auf den ersten Blick wohl langweiligste Spiel von allen: Lawn Mowing Simulator – eine Rasenmähersimulation.
Die Idee ist nicht neu. Der Advanced Lawnmower Simulator für den Computer ZX Spectrum wurde 1988 als kostenloses Dreingabe auf dem Titelblatt des Magazins Your Sinclair angeboten. Allerdings war er ein Aprilscherz und machte sich damals über all die Jet Bike-, BMX- und Grand Prix-Simulatoren der Spieleschmiede Codemasters lustig.
Lawn Mowing Simulator, entwickelt von dem in Liverpool ansässigen Studio Skyhook Games, ist kein Aprilscherz. Aber warum sollte man ein Spiel spielen, in dem es um etwas geht, das man auch im echten Leben tun könnte? Als Journalist wollte ich das genauer wissen, und so beschloss ich, einige Experten zu befragen.
Lektion eins: „Farming Simulator“ hat sich 25 Millionen Mal verkauft
„Es ist seltsam, dass dieses Genre nicht nur existiert, sondern auch so beliebt ist“, erklärt Krist Duro, Chefredakteur von Duuro Plays, einer Website für Videospielkritiken mit Sitz in Albanien – und die erste Person, die ich finden konnte, die den Lawn Mowing Simulator tatsächlich gespielt und einigermaßen genossen hat. „Aber man muss auf eine bestimmte Art und Weise ticken. Ich mag sich wiederholende Aufgaben, weil sie mir erlauben, in einen Zen-ähnlichen Zustand zu gelangen.“
Duro nennt einige andere Simulatoren, von denen ich noch nie gehört habe: Motorcycle Mechanic 2021, Car Mechanic Simulator, Construction Simulator, Ships Simulator. „Solche Spiele sind enorm erfolgreich“, sagt Duro. „Farming Simulator hat sich 25 Millionen Mal verkauft und wurde 90 Millionen Mal heruntergeladen. PowerWash Simulator hat sich für Konsolen mehr als 12 Millionen Mal verkauft.“
Duro hat die neueste VR-Version des Lawn Mowing Simulator getestet, war aber kein Fan davon. „Das Gehirn kann nicht akzeptieren, dass man sich im Spiel bewegt, während man im echten Leben stillsteht. Das macht es unmöglich, länger als 30 Minuten zu spielen, ohne das Gefühl zu haben, man stirbt gleich“, sagt er. Davon abgesehen gefiel es ihm.
Lektion zwei: Die Psychologie dahinter
„Ich bin ein 30-jähriger Mann und liebe nichts so sehr, wie meine Freitag- und Samstagabende im Euro Truck Simulator zu verbringen und durch Europa zu fahren. Ich parke sogar an der Tankstelle [im Spiel] und gehe nach unten, um mir [echte] Schinkensandwiches und einen Kaffee zu machen. Kein Wunder, dass ich Single bin.“ So lautete kürzlich ein Geständnis auf dem X-Feed Fesshole, wo Menschen anonym ihre Sünden teilen. Was zieht die Menschen zu solch langweiligen Simulatoren hin?
„Es gibt keine einheitliche Theorie“, erklärt mir die Kognitionspsychologin Dr. Celia Hodent aus Los Angeles, Autorin von The Gamer’s Brain. „Videospiele konzentrieren sich auf extrinsische und intrinsische Motivation. Extrinsische Motivation bringt uns dazu, etwas zu tun, was uns nicht interessiert, wie zum Beispiel einer langweiligen Arbeit nachzugehen, um dafür bezahlt zu werden. Videospiele sind eine autotelische Aktivität“ – das heißt, sie werden aus Freude am Spiel gespielt – „bei der wir motiviert sind, uninteressante Aufgaben zu erledigen, weil uns die Belohnung wichtig ist, wenn wir die Aufgabe erfüllt haben.“ Und weiter: „Menschen sind intrinsisch motiviert, wenn Aktivitäten unser Bedürfnis nach Kompetenz (Gefühl des Fortschritts), Autonomie (Selbstdarstellung und sinnvolle Entscheidungen) und Verbundenheit (Kooperation/Wettbewerb mit anderen) befriedigen. Es gibt zwar keine endgültige Antwort auf die Frage, warum sich Menschen zu Simulatoren hingezogen fühlen, aber wir haben mehrere Theorien – Gefühl der Kontrolle, Fortschritt, Befriedigung durch Belohnungen –, die uns einen Rahmen zum Verständnis liefern können.“
Ich habe nach diesem Gespräch das Gefühl, dass ich mich erstmal hinlegen muss, aber ich bleibe optimistisch, dass ich zumindest die Chance haben werde, etwas von dem zu verstehen, worüber mein nächster Experte spricht.
Lektion drei: Die lange Geschichte der Rasenmähersimulationen
Shahid Kamal Ahmad entwickelt seit 1982 Videospiele. Er war Leiter der Abteilung für strategische Inhalte bei Sony, zuvor war er 10 Jahre lang bei PlayStation tätig. Jahrzehnte zuvor hatte er als junger Programmierer das Spiel Jet Set Willy vom ZX Spectrum auf den Commodore 64 portiert. Er weist darauf hin, dass die seltsam fesselnde Simulation realer Alltagstätigkeiten von Anfang an Teil von Spielen waren. Sie bieten dasselbe, wie Weltraum-Shooter und Rennsimulationen: das Gefühl, etwas zu vollenden – nur mit anderen Bildern.
„Spiele bedeuten, dass man auf den langweiligen Teil verzichten kann“, sagt er. „Das Abwickeln des verdammt langen Stromkabels kostet Zeit. Oder das Verlängerungskabel von drinnen zu holen. Das Mähen des Rasens, das ist die Vollendung. Das ist der gleiche Grund, warum Leute Wortsuchrätsel mögen. Erinnern Sie sich an Hover Bovver auf dem C64 von Jeff Minter von der Computerspielfirma Llamasoft? Er hat das Rasenmähen in ein Spiel verwandelt, nur dass es nicht langweilig war. Er nutzte die befriedigende Mechanik des Rasenmähens als ein englisches Paradigma und das machte den Charme aus.“
Den Hover Bovver, der 1983 herausgekommen war, hatte ich komplett vergessen. Also wandte ich mich an Jeff Minter, um herauszufinden, wie alles anfing.
„Wir waren auf dem Weg zu einer Computerausstellung in Birmingham“, erinnert er sich. „Ich wohnte mit meiner Mutter, meinem Vater und einem Freund in diesem schicken Landhaus. Dieses Haus hat einen gepflegten Garten, und beim Frühstück – die Rühreier waren übrigens herrlich – schauten wir aus dem Fenster und sahen den Gärtner einen Rasenmäher herumschieben. Mein Vater und ich begannen mit dieser Idee herumzuspielen: Daraus könnte man ein Spiel machen. ‚Du könntest den Rasenmäher deines Nachbarn gestohlen haben.‘ ‘Du könntest deinen Hund auf sie hetzen.‘ Bevor ich wieder zu Hause war, existierte das ganze Spiel schon in meinem Kopf. Es war eine Abwechslung zu meinen üblichen Laser spuckenden Kamelen.“
Lektion vier: Der ultimative Rasenmäherexperte
Carl Williams von der British Lawn Mower Racing Association fährt seit 20 Jahren Rennen mit Rasenmähern und tritt damit in die Fußstapfen seines Vaters, da dies eine der günstigsten Möglichkeiten ist, in den Rennsport einzusteigen.
Mehr Action im echten Leben: Rennen wie dieses fährt Williams seit 20 Jahren
Foto: Matthew Lloyd/ Getty Images
Williams kennt sich mit seinen Rasenmähern bestens aus – vom Westwood Lawn Bug, einem Aufsitzmäher der Klasse drei, bis hin zum 12½-PS-Honda. Zehn-Runden-Sprints sind üblich, aber das große Ereignis sind die 12-Stunden-Rennen, das Rasenmäher-Äquivalent zu den 24 Stunden von Le Mans. Williams ist eher ein Fan von Grand Theft Auto und Call of Duty und nicht sicher, wie ein mögliches Rasenmäher-Rennspiel funktionieren könnte.
„Beim Rasenmäherfahren kommt es aufs Steuern an, da man sein Körpergewicht verlagert, um die Maschine aufrecht zu halten“, sagt er. „Man müsste noch die physische Erfahrung hinzufügen, auf einer ungefederten Maschine auf einer Grasbahn herumzuhüpfen.“
Ich frage Williams, ob er die Idee des Lawn Mowing Simulator gut findet. „Ich hasse es, meinen eigenen Rasen zu mähen“, gibt er zu. „Aber ich kann mir vorstellen, dass jemand diese Art von Spiel sehr therapeutisch finden könnte.“
Lektion fünf: Das wahre Leben
Nachdem meine rudimentäre Recherche zur Geschichte des Rasenmäherspiels fast abgeschlossen war, beschloss ich, dass es an der Zeit für meine eigene „Experten“-Einschätzung war.
Als Erstes muss man seinen Rasenmäher auswählen – und hier wünschte ich mir, ich hätte Williams genauer zugehört. Ich bin mir nicht ganz sicher, was der Unterschied zwischen dem Stiga 2084, dem Scag Turf Tiger II oder dem Toro Z Master 7500-D ist, außer dass sie unterschiedliche Farben haben. Das Mähen selbst sieht so realistisch aus, dass man das frisch geschnittene Gras fast riechen kann. Aber es dauert ewig, einen Rasen zu mähen, und ich habe nach etwa einer halben Stunde aufgegeben. Das Spiel könnte definitiv ein paar Power-Ups im Stil von Mario Kart und Interaktionen im Stil von Hover Bovver gebrauchen, bei denen man fast aus Versehen den Hund des Nachbarn überfährt.
Aber ist es genauso wie das Original? Um das herauszufinden, stieg ich auf einen Hayter Harrier 56 Intek Edge 2800 RMP 100dB Autodrive Benzinmäher. Meine Nachbarn waren natürlich misstrauisch, als ich ihnen plötzlich und ohne ersichtlichen Grund anbot, ihren Rasen zu mähen, als Nächstes fragten sie, ob sie ein Foto von mir machen dürften. Zum Glück haben sie keinen Hund, den ich überfahren könnte.
Ich stimme Kritiker Duro zu, dass „sich wiederholende Aufgaben einen in einen zen-ähnlichen Zustand versetzen“, auch wenn mir die Arme wehtaten und ich immer wieder anhalten musste, um das Schnittgut in den Mülleimer zu entleeren. Ich stimme Ahmad, meinem Spielehistoriker, zu, dass „das Mähen des Streifens eine Vollendung bedeutet“. Wie Williams, mein Rasenmäherexperte, sagte, hat das Mähen etwas Therapeutisches. Leider fehlte mir jedoch die von meiner Psychologin Hodent vorgeschlagene „extrinsische Motivation, die uns dazu bringt, etwas zu tun, was uns nicht interessiert, um dafür bezahlt zu werden“. Ich hätte mit den Nachbarn einen Preis vereinbaren sollen.