Ralf Stegner: Neuwahlen? „Ach welches, die Substanz jener Krisenpolitik ist gut“ – WELT

Der Sozialdemokrat Ralf Stegner, 64, ist seit 2021 Mitglied des Bundestags und sitzt dort im Auswärtigen Ausschuss. In der SPD gehört er der Parlamentarischen Linken an. In Schleswig-Holstein war er zuvor Finanzminister und anschließend Innenminister.

WELT: Herr Stegner, die SPD ist bei der Europawahl auf ein neues Rekordtief gefallen. Welche Konsequenzen müssen die Sozialdemokraten aus diesem historisch schlechten Ergebnis ziehen?

Ralf Stegner: Wir müssen die Themen, die Millionen Menschen beschäftigen – wie Arbeit, Rente, Pflege, Gesundheit, Wohnen, auch Klimaschutz – klar adressieren mit praxistauglichen Antworten, die gerecht sind und in klarer Sprache vermittelt werden. Dazu dürfen wir den Populisten von der Wagenknecht-Truppe und schon gar nicht der rechtsradikalen AfD die Themen Friedenspolitik und Flüchtlingskrise überlassen. Wir müssen mit unserem klaren Profil, das sich von FDP, Grünen und auch CDU unterscheidet, den anderen deutlich selbstbewusster Paroli bieten.

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Stegner: Ach was, die Substanz der Krisenpolitik ist gut, Handwerk und Kommunikation sind verbesserungsbedürftig. Das ist Getöse einer fundamentalistischen Opposition aus CDU/CSU, die selber nichts zu bieten haben. Gerade deshalb ist es so ärgerlich, wenn man die eigenen Leistungen zerredet oder streitet wie die Kesselflicker. Es ist unsere patriotische Pflicht, nicht davonzulaufen, sondern unsere Arbeit zu tun, bis reguläre Wahlen anstehen, und nicht unsere Institutionen infrage zu stellen.

WELT: Im Europawahlkampf haben Sie mit der Parole „Frieden sichern“ für die SPD geworben. Welcher Frieden ist gemeint, und wie sichert ihn Ihre Partei?

Stegner: Wir haben das plakatiert, weil meine Generation nach dem Zweiten Weltkrieg in Frieden und Wohlstand aufgewachsen und es unsere Verpflichtung ist, dies auch unseren Kindern und Enkeln zu garantieren. Die meisten Mitglieder der SPD sind – wie ich – keine Pazifisten, aber Kriegsgegner. Wir haben unsere Demokratie, weil Nazideutschland militärisch besiegt worden ist. Deshalb müssen wir heute anderen Ländern beistehen. Aber wir wissen auch, dass jeder Krieg Tod, Zerstörung, Vergewaltigungen, Traumatisierung bedeutet. Jene, die leichtfertig über Krieg reden, sind in der Regel nicht dessen Opfer.

Ampel-Spitzen gegen Neuwahlen – „Geht aber auch darum, dass wir unsere Arbeit machen“

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Nach dem schlechten Abschneiden der Ampel-Parteien bei der Europawahl hat Bundeskanzler Olaf Scholz zu geschlossener, gemeinsamer Arbeit aufgerufen. „Das Wahlergebnis war für alle drei Regierungsparteien schlecht“, so Scholz.

Quelle: WELT TV

WELT: Wie also wollen Sie diesen Frieden sichern?

Stegner: Frieden sichern heißt in unterschiedlichen Regionen Unterschiedliches. In der Ukraine gilt es, zu einem Ende des Krieges zu kommen, ohne dass es Putin gelingt, Grenzen mit Gewalt zu verschieben. Dazu genügt es nicht, Waffen zu liefern und zu glauben, wir zwängen Russland irgendwann militärisch an den Verhandlungstisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Erfolg hat, ist extrem gering.

Deshalb ist Deutschland der Hauptunterstützer der Ukraine nach den USA, nicht nur militärisch, sondern mit ökonomischer, humanitärer und politischer Hilfe. Wir finanzieren den Haushalt Kiews mit, wir nehmen die meisten Flüchtlinge auf, und wir reden mit Ländern wie China, die Einfluss auf Russland haben. Militärisch wollen wir insbesondere die Zivilbevölkerung durch Flugabwehr vor russischen Drohnen und Raketen schützen. Systemen wie Kampfflugzeugen, Marschflugkörpern oder Mittelstreckenraketen, die den Krieg nach Russland tragen sollen, stehen wir dagegen skeptisch gegenüber.

WELT: Nun hat die Bundesregierung gerade zugestimmt, der Ukraine den Einsatz westlicher Waffen auch auf russischem Territorium zu erlauben. War das die richtige Entscheidung, wenn Sie den Krieg nicht nach Russland tragen wollen?

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Stegner: Das ist kein Strategiewechsel. Wenn eine Großstadt wie Charkiw von russischem Gebiet in Grenznähe unter Beschuss genommen wird, muss es möglich sein, die Menschen dort zu verteidigen. Das ist aber ein Einzelfall, kein Blankoscheck. Grundsätzlich gilt: Details des personellen und territorialen Einsatzes von Waffen gehören nicht in die Öffentlichkeit. Kein Schachspieler verrät seine nächsten fünf Züge, weil er sonst die Partie verliert.

Solche Debatten gefallen nur Maulhelden, die in Deutschland zeigen wollen, wie tapfer sie sind. So eine Eskalationseuphorie kann sich ein Bundeskanzler nicht erlauben. Olaf Scholz lässt sich von der Angstpropaganda Putins nicht einschüchtern, aber behält die Risiken besonnen im Blick.

WELT: Erst galt es als besonnen, den Einsatz deutscher Waffen auf russischem Territorium nicht zu erlauben. Jetzt soll es besonnen sein, es doch zu tun. Verliert die Friedensagenda des Kanzlers dadurch nicht an Glaubwürdigkeit?

Stegner: Nein. Es bleibt das zentrale Versprechen des Kanzlers, dafür zu sorgen, dass Deutschland und die Nato nicht Kriegspartei werden. Dabei ist er eng an der Seite von US-Präsident Joe Biden. Er kann nicht über alles öffentlich reden. Das ist ein Grund, warum der Großteil der Bevölkerung sicher froh ist, dass nicht Anton Hofreiter, Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder Friedrich Merz im Kanzleramt sitzen, sondern Olaf Scholz.

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WELT: Welche konkrete diplomatische Idee haben Sie für die Ukraine?

Stegner: Jeder öffentliche Vorschlag würde zu Recht von der Ukraine als souveränem Staat zurückgewiesen. Diplomatie funktioniert nur hinter verschlossenen Türen und nicht mit öffentlichem Geplapper.

WELT: SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sprach von einem „Einfrieren“ des Konflikts. Ist das keine Aufforderung zur Gebietsabtretung?

Stegner: Er hat nicht Permafrost gesagt. Einfrieren heißt zum Beispiel, regionale Feuerpausen zu vereinbaren, um überhaupt ins Gespräch zu kommen. Man schätzt, dass täglich 900 russische und 600 ukrainische Soldaten umkommen oder schwer verletzt werden. Putin ist das egal, der Ukraine und uns kann das nicht egal sein. Wenn dann der französische Präsident Emmanuel Macron sagt, man müsse im Zweifel auch über Nato-Bodentruppen nachdenken, ist das keine strategische Ambiguität, sondern das Drohen mit dem dritten Weltkrieg.

WELT: Wäre es nicht klüger, Putin darüber im Unklaren zu lassen, wie weit man zu gehen bereit ist?

Stegner: Im Prinzip ja, aber nicht bezogen auf Vorschläge, die in ihrer Wirkung Selbstmordattentaten gleichkämen. Im Nuklearkrieg ist, wer als Erster schießt, als Zweiter tot. Olaf Scholz verfolgt eine andere Linie: Wir müssen Länder wie China oder Indien, die nicht alle unsere Werte teilen, aber vielleicht mehr Einfluss auf Russland haben als wir, überzeugen. Wir haben Argumente, weil sie mit uns Geschäfte machen wollen.

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WELT: Indien will auch deutsche Rüstungsgüter. Sind Sie dafür?

Stegner: Ich bin kein Freund von Rüstungsexporten in Krisen- und Kriegsgebieten, weil mehr Waffen in aller Welt mehr Unsicherheit bringen und ich die Zeitenwende nicht als Konjunkturprogramm für die Rüstungsindustrie verstehe. Aber ich sage auch: Unsere Moral ist manchmal ein bisschen fragwürdig, wenn wir Saudi-Arabien beliefern, Länder wie Indien aber nicht.

WELT: Es könnte Putin auch darum gehen, durch ständig neue außenpolitische Krisen und Konflikte das Überleben seines Regimes abzusichern. Es ist möglich, dass er kein Interesse am Frieden hat. Wie wollen Sie das einkalkulieren?

Stegner: Das ist ein wichtiger Aspekt, aber natürlich hat Russland langfristig auch andere Interessen. Ausschließlich Schurkenfreunde wie Nordkorea und Iran zu haben ist nicht ersprießlich. Putin hat seiner Bevölkerung zwar brutal jede Opposition ausgetrieben, aber er muss ihr dennoch etwas bieten. Kurz: Friedensabkommen werden nun einmal zwischen Feinden geschlossen. Aber ich sehe die vernünftige Alternative dazu nicht.

WELT: Teilen Sie die Einschätzung der 32 Nato-Staaten und des SPD-Verteidigungsministers, dass Russland in wenigen Jahren militärisch in der Lage und auch willens sein könnte, das Nato-Gebiet anzugreifen?

Stegner: In der Lage sind wir ja umgekehrt auch; das heißt aber nicht, wir würden das auch tun. Hybride Kriegsführung – zum Beispiel Deep-Fakes – und Unterwanderung der westlichen Demokratien durch Russland und China machen mir momentan mehr Sorgen. Die Demokratie kann sich nicht mit den gleichen Systemen wehren. Das Wettrüsten hat einen hohen Selbstbestrafungseffekt. Wir verbrauchen damit Ressourcen, die Schaden anrichten, statt sie dafür zu verwenden, Probleme zu beseitigen wie Armut, Umweltzerstörung und Migration.

WELT: Wenn der Staat nicht in Rüstung investiert, ist er vulnerabel.

Stegner: Ich habe dem Sondervermögen zugestimmt, weil ich glaube, dass wir die Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit Deutschlands wiederherstellen müssen. Aber es ist falsch, Abrüstungsabkommen zu kündigen.

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WELT: Blicken wir auf einen weiteren Krieg. Auch die Eskalation im Nahen Osten führen Sie auf ein diplomatisches Versagen zurück. Am 7. Oktober haben die Terroristen der Hamas Israel angegriffen. Was hätte Diplomatie dagegen ausrichten können?

Stegner: Deutschland hat eine besondere Verantwortung, dass der Staat Israel sicher leben kann. Das ist doch völlig klar. Den Staat Israel gibt es nur wegen des Holocaust, an dem Deutschland schuld ist. Jede Lösung, die Israels Sicherheit gegen Terrorismus und Antisemitismus nicht gewährleistet, ist deshalb niemals zulässig. Aber Humanität gilt immer für alle Menschen. Es ist deswegen nicht legitim, Kinder und die Zivilbevölkerung in dem Maße leiden zu lassen, wie das in Gaza geschieht. Die komplette Abwesenheit europäischer Diplomatie hat zur Situation beigetragen, in der wir heute sind. Erfreulicherweise hat sich das mit Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock geändert.

WELT: Die Terroristen der Hamas haben am 7. Oktober brutale Massaker gegen die israelische Bevölkerung ausgeübt, sie haben die Menschen abgeschlachtet, vergewaltigt, ermordet. Noch immer befinden sich weit mehr als 100 Geiseln in den Händen der Hamas. Israel muss sich verteidigen. Wie können Sie dann sagen, es brauche nur mehr Diplomatie?

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Stegner: Natürlich muss Israel sich verteidigen können, darf aber humanitäre Gesichtspunkte nicht völlig außer Acht lassen. Es bräuchte vielleicht eine Friedenstruppe der Vereinten Nationen, damit diese Ziele vereinbart werden, von denen ich gerade gesprochen habe: Sicherheit Israels gegen Terroristen und gleichzeitig Wahrung der Humanität. Diplomatie heißt, dass die internationale Gemeinschaft sich viel mehr engagiert. Es gibt eine simple, völlig falsche Vorstellung von Diplomatie, so als ob es darum ginge, sich direkt mit Putin oder Hamas-Führern an einen Tisch zu setzen und zu einigen. Das ist natürlich nicht Diplomatie, sondern Unfug.

WELT: Jetzt spielt aber auch der Zeitpunkt von öffentlichen Verlautbarungen eine Rolle. Sie haben sich kürzlich für eine Anerkennung Palästinas als eigenständigen Staat ausgesprochen. Das kann man auch so verstehen, dass Sie sich der Solidarität mit Israel nicht verpflichtet fühlen. War es klug, das jetzt zu sagen?

Stegner: Es geht nicht um sofortige Anerkennung, aber wie lange wollen wir noch warten, bis wir das Thema benennen? Es reicht nicht, bloß zu sagen, wir fänden eine Zwei-Staaten-Lösung gut. Wir müssen auch mithelfen, dass sie etabliert werden kann. Das bedeutet nicht, die Solidarität mit Israel aufzukündigen. Die Sicherheit Israels muss immer gewährleistet sein. Terrorismus und Antisemitismus müssen immer bekämpft werden. Humanität und Selbstbestimmung gelten auch für das palästinensische Volk, sonst wachsen neue Generationen im Hass gegeneinander auf. Das führt nicht nur ins Unglück, sondern ist in der Lage, die ganze Welt anzuzünden.

WELT: Die Situation im Nahen Osten hat auch Auswirkungen auf die innenpolitischen Debatten in Deutschland. Denn hier kommt es verstärkt zu antisemitischen Protesten von propalästinensischen Gruppierungen. Sind die Proteste aus Ihrer Sicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt?

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Stegner: Nein. Was gegen die unveränderbaren Grundprinzipien des Grundgesetzes geht, wird nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Wir können hier nicht Parolen auf Plakaten dulden, die glasklar antisemitisch oder rassistisch sind. Gleichzeitig haben wir eine merkwürdige Debatte über Meinungsfreiheit in Deutschland. Viele Leute glauben, wenn wir die Plattformen regulieren, sei das ein Eingriff in die Meinungsfreiheit.

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WELT: Sie meinen die sozialen Medien.

Stegner: Ja. Wenn solche Filme wie vom brutalen, islamistischen Messerangriff in Mannheim verbreitet werden, denken potenzielle Täter, das könnten sie auch machen. Das begünstigt, dass sogenannte Einzeltäter sich radikalisieren. Alles, was in der realen Welt verboten ist, muss in der virtuellen Welt auch verboten bleiben. Das ist meine feste Überzeugung. Gewalt kann niemals akzeptiert werden, egal von wem sie ausgeht und gegen wen sie sich richtet! Aufrufe zur Gewalt sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, die sogenannte „Remigration“, die ich eher Deportationen nennen würde, schon gar nicht.

Ich bin sehr für das Demonstrationsrecht. Man darf auch Unsinn reden. Dieses konservative Narrativ, es gebe keine Meinungsfreiheit in Deutschland, ist Quark. Sie endet aber dort, wo Artikel 1 des Grundgesetzes verletzt wird: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Demokratie lebt davon, dass wir ernst nehmen, was in unserer wunderbaren Verfassung steht.

Source: welt.de