„Radical Playground“: Das ist doch (k)ein Spielplatz!

Manchmal lasse ich die Kunst außer Acht und schaue mir stattdessen die anderen im Ausstellungsraum an. Seite an Seite stehen zwei vor dem Einführungstext, dann schreiten sie bedächtig von Kunstwerk zu Kunstwerk. Es folgt eine Unterhaltung im Flüsterton: Sie weisen sich auf Details hin, gleichen Assoziationen und Wahrnehmungen ab. Es ist, als folgten sie einer einstudierten Choreografie, mit der sie sich nicht nur den Werken nähern, sondern zugleich signalisieren, dass sie sich angemessen durch diese Räume zu bewegen wissen, dass sie dessen Spielregeln kennen.

An dieser tradierten Haltung gegenüber der Kunst ist im 20. Jahrhundert viel gerüttelt worden. Insbesondere haben ab den 1960ern neue Strömungen wie Performancekunst versucht, Rezipient*innen aus ihrer distanzierten Rolle hervorzulocken. Dass sich davon wenig langfristig in das Regelwerk der Kunstbetrachtung eingeschrieben hat, wird spätestens dann ersichtlich, wenn man Ausstellungsräume zusammen mit einem Kind – besser noch Kleinkind – betritt.

Sofort hat man die volle Aufmerksamkeit des Aufsichtspersonals. Ihre Blicke verraten, was in den Hausordnungen der Museen geschrieben steht. Darin wird kindliches Verhalten als Störung des Ausstellungsbetriebs antizipiert: Kinder sollen nicht auf Rücken oder Schultern getragen werden, erst recht nicht rennen, herumtoben oder gar Spielzeug werfen. Aus konservatorischen Gesichtspunkten verständlich. Doch auch die Bitte um Lärmvermeidung, Stillverbote oder der Hinweis auf Unterlassung unnötigen Fahrstuhlfahrens sind in den Hausordnungen von Kunstmuseen zu finden.

Kinder haben ein Recht auf Kunst

Die Kinder dann lieber gleich zu Hause lassen? Ehrlicherweise genießen auch Eltern es, wenn Museen Kinderbetreuung anbieten und sie die Ausstellungen allein anschauen können. Doch damit bleiben Kinder ungebetene Gäste in der kulturellen Sphäre. Die UN-Kinderrechtskonvention sieht anderes vor: „Jedes Kind hat das Recht auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben“, steht dort. Und tatsächlich fallen immer mehr Bemühungen großer Häuser auf, Kinder nicht nur zu betreuen, sondern zu beteiligen; sie nicht länger als Anhängsel ihrer Eltern zu sehen, sondern als Teil des Kunstpublikums.

Ein Kunstparcours am Gropius Bau in Berlin macht derzeit vor, wie es gehen kann. Elf Wochen lang, noch bis in den Juli hinein, ist die Parkfläche neben dem Ausstellungshaus ein Spielplatz – von über einem Dutzend Künstler*innen mit Installationen und Skulpturen ausgestattet, die beschaukelt, beklettert, bespielt oder einfach nur bestaunt werden dürfen. Radical Playgrounds, kuratiert von Joanna Warsza und Benjamin Foerster-Baldenius von raumlaborberlin, soll ein Ort sein, um „das gesellschaftsbildende und politische Potenzial des Spielens“ zu erproben; ein Ort, an dem Regeln neu gedacht und Interaktionen improvisiert werden.

Meine dreijährige Begleitung erklimmt zuallererst die Strohpyramide des guatemaltekischen Künstlers Edgar Calel, der damit sowohl auf Maya-Kosmologien als auch die Verschleppung indigener Kulturgüter in westliche Museen verweist. Es kann kaum ein Zufall sein, dass man ihr dort begegnet, wo einst Berlins erstes Völkerkundemuseum stand. Auch The Dig, von der senegalesischen School auf Mutants, macht auf die verborgenen Eigenschaften des Parkplatzes aufmerksam. In einer zwischen Sandkasten und Ausgrabungsstätte anmutenden Kuhle darf gegraben und geforscht werden. Was zutage befördert wird, wird Teil eines sich ständig erweiternden Depots.

Im Zentrum des Parcours sind Auszüge aus der Wanderausstellung The Playground Project von Gabriela Burkhalter zu sehen. Die Raumplanerin und Politikwissenschaftlerin rekapituliert hier 100 Jahre Berliner Spielplatzgeschichte in Ost und West. Mitten durch die Schautafeln schlängelt sich der Lozziwurm, eine vor über 50 Jahren von Yvan Pestalozzi entworfene Spielskulptur. Aus der knallorangen Röhre dringt der fröhliche Lärm der Kinder, die sie erkunden.

„Kunst sollte zweckfrei sein“

Viele der Stationen des Parcours eint, dass sie Besucher*innen auf mehreren Ebenen ansprechen. Kinder fühlen sich direkt angezogen und treten intuitiv mit den Objekten und Materialien in Kontakt. Erwachsene interessieren sich vielleicht eher für die konzeptuellen Überlegungen der Künstler*innen, vielleicht haben sie aber auch dieselbe kindliche Freude an der unvoreingenommenen Interaktion. Mich bringen die endlosen Warum-Frageketten meines Kindes zum Nachdenken: Ja, warum hat dieses Karussell eigentlich keine Pferde? Warum läuft da ein Gänseblümchen herum? Und warum sind die Würfel rund?

Die erste Initiative, den ehemaligen Parkplatz als Außenraum zu beleben, kam 2021 von dem Künstler Zheng Bo, der das schattige, von Platanen durchzogene Areal in „Gropius Hain“ umtaufte. Eine andere Künstlerin wird nun dafür sorgen, dass das Spiel auch nach Radical Playgrounds einen festen Platz im Gropius Bau hat. In Zusammenarbeit mit Kerstin Brätsch wird der gesamte Westflügel des Erdgeschosses in einen permanenten Spielort umgestaltet und ab Herbst kostenfrei für Familien zugänglich sein. „Es ist wirklich ein Pilotprojekt“, sagt Direktorin Jenny Schlenzka, mit der ich mich im Pavillon des Restaurants Beba, unweit von Florentina Holzingers Halfpipe, zum Gespräch treffe.

Der Name des Spielortes ist noch nicht spruchreif, doch konzeptuell wird er an den Prinzipien von Abenteuerspielplätzen und Playwork orientiert sein. „Kinder sollen hier selbstbestimmt sein können, es gibt keine formalen Vorgaben für ihr Spiel“, so Schlenzka. Dazu gehört, vielfältige Materialien bereitzustellen, wie Lehm, Papier, Stoff, mit denen Kinder experimentieren können, von denen allerdings jetzt schon absehbar ist, dass sie überall im Gropius Bau Spuren hinterlassen werden. Schlenzka freut sich jedoch auf die Veränderungen im Haus: „Es gibt vermutlich keinen größeren Kontrast zum White Cube als eine Lehmgrube, in der Kinder herumspringen“, sagt sie und lacht.

Neue Spielregeln für Museen

Vorstöße der Kunst ins Spielerische sind dabei keine Neuheit. Schnell denkt man an Carsten Höllers gigantische Rutschen oder William Forsythes Hüpfburg. Vor drei Jahren fragte eine dem Spiel gewidmete Ausgabe der Zeitschrift Kunstforum: „Ist die Kunstwelt der bessere Spielplatz?“ Es ist naheliegend, einer Kunst, die Erwachsene zum Spielen herausfordert, etwas Subversives zuzuschreiben. Doch werden Kinder von einem ästhetischen Programm adressiert, passiert noch etwas anderes: An ihrer Seite stoßen wir auf die Vielschichtigkeit von Werken. Die Choreografie der Kunstbetrachtung nimmt einen unvorhergesehenen Verlauf.

Die neue Direktorin des Gropius Baus, die für ihren Ruf nach über 20 Jahren in New York in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist, träumt seit langer Zeit davon, ein großes Haus im wortwörtlichen Sinn zu bespielen. „Seit ich Lars Bang Larsens ,The Model‘ gelesen hatte, war ich von der Idee angetan.“ Das 2010 erschienene Buch erzählt die Geschichte einer radikalen Umwidmung des Stockholmer Moderna Museet: 1968 überzeugte der Künstler und Aktivist Palle Nielsen den damaligen Direktor mit einem utopischen Vorschlag. Es entstand Modellen – ein Abenteuerspielplatz in einem der bedeutendsten Kunstmuseen des Landes. „Es hat eine enorme Symbolkraft, wenn so ein Haus leer geräumt und den Kindern überlassen wird“, sagt Schlenzka. Modellen dient ihr als Vorbild für ein Museum, in dem mehr erlaubt als verboten ist. Dabei betont sie die Gemeinsamkeiten von Spiel und Kunst: „Das freie Spiel ist Selbstzweck. Darin sehe ich eine Parallele zu Kunst. Gute Kunst sollte auch zweckfrei sein.“

Als Kuratorin orientiert sich Schlenzka auch an der Wahrnehmung ihrer eigenen Kinder: „Ich achte immer sehr genau darauf, wie meine Kinder auf Kunstwerke reagieren. Wenn sie sich für etwas interessieren, funktioniert die Arbeit auch jenseits einer intellektuellen Ebene.“

Spiel sieht Schlenzka „ganz grundsätzlich als ein Modell für ein anderes Museum“. Entsprechend wird die Neuausrichtung auch über den Westflügel hinaus spürbar sein. Das Ausstellungsprogramm unter Schlenzkas Direktive startet im September mit Rirkrit Tiravanija, der, bekannt für seinen erweiterten Kunstbegriff, im Gropius Bau institutionelle Grenzen austesten wird. „Es wird gekocht, gegessen und gespielt“, heißt es in der Ankündigung von DAS GLÜCK IST NICHT IMMER LUSTIG. Auch die Infrastruktur des Hauses soll an einigen Stellen künstlerisch überholt werden. Beispielsweise ist geplant, gemeinsam mit der Komponistin und Künstlerin Ayumi Paul neue Sounds für den Schließzeit-Gong mit Kindern aufzunehmen.

So will die Direktorin nach und nach Gegebenes hinterfragen: „Brauchen wir diese Regeln noch? Brauchen wir diese Strukturen noch?“ Es ist aussichtsreich, dass ihre Erneuerungen auch ein Publikum ansprechen, das von den bisherigen Spielregeln abgeschreckt wurde.

Radical Playgrounds. From Competition to Collaboration Parkfläche am Gropius Bau, Berlin, bis 14. Juli 2024, geöffnet von Mittwoch bis Sonntag