Pussy Riot gastiert in Berlin: Neonpink vor welcher Neuen Nationalgalerie

Es ist ein bisschen so, als wäre man auf einer Demo. Die Performance Rage von Nadja Tolokonnikowa vor der Neuen Nationalgalerie in Berlin sollte um 20 Uhr beginnen, aber es zieht sich. „Wartet sie vielleicht bis Sonnenuntergang?“, fragt jemand neben mir. Vier Mannschaftswagen der Polizei stehen entlang der Potsdamer Straße. 2.500 Menschen waren da, wird Tolokonnikowa später auf Instagram schreiben.

Eigentlich ist Tolokonnikowa, Mitbegründerin der Punkband Pussy Riot, die sich auch als Kunstkollektiv versteht, zumindest in westeuropäischen Kunstinstitutionen anerkannt. In Russland ist das anders, dort muss sie Repressalien fürchten.

1989 in Norilsk, einer Industriestadt in der Permafrostzone, geboren, las sie als junge Frau russische existenzialistische Philosophen, außerdem Kierkegaard, Schopenhauer und Sartre. Die Dinge könnten auch anders sein, lernte sie. Sie bewunderte die Moskauer Konzeptualisten, eine Bewegung von dissidenten Künstler*innen und Schriftsteller*innen, deren Performances und ironischen Aneignungen der sowjetischen Bürokratensprache. Als sie nach Moskau ging, um Philosophie zu studieren, hörte sie zum ersten Mal von zeitgenössischer Kunst. Sie las Deleuze und dachte, ja, die Welt könnte wirklich anders sein. Putin war in seinem achten Regierungsjahr, und die Reichen in Moskau und St. Petersburg wurden immer reicher. Sie schloss sich der Gruppe Woina – Krieg – an. Das Kollektiv machte mit Aktionen von sich reden, zum Beispiel schweißten sie 2007 die Tür eines Moskauer Edelrestaurants zu, in der Annahme, dort fände eine Neujahrsfeier statt. Tatsächlich war das Etablissement leer. Schließlich zerbrach die Gruppe.

Kampf gegen Putins Regime

2011 war Tolokonnikowa unter dem Eindruck des Arabischen Frühlings zu einer Konferenz eingeladen, die die verstreuten Oppositionsgruppen Russlands vereinen sollte. Gemeinsam mit Jekaterina Samuzewitsch legte sie dar, warum es radikale feministische Theorie in Russland brauche, eine Praxis aus Punk und Kunst, Riot Grrrl und Guerilla Girls. Radikaler Feminismus war neu in Russland und zielte auf Putins autoritäre Regierung, die kulturell von Männlichkeitskult flankiert war. Die neue Gruppe hieß Pussy Riot.

Zu jener Zeit war Dmitri Medwedew russischer Präsident, der jedoch seinen Vorgänger Putin zur Wiederwahl empfahl, die Wahlen waren für Anfang März angesetzt. Ende Februar performten Pussy Riot ihr Punk Prayer in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, um gegen die Verstrickungen der Orthodoxen Kirche in Putins Regime zu protestieren. Die Künstlerinnen wurden festgenommen und zu Haftstrafen wegen „Hooliganismus“ verurteilt. Ihre neonfarbenen Sturmmasken sind in der Ikonografie der 2010er Jahre so fest verankert, dass Harmony Korine sie in seinem Film Spring Breakers von 2013 zitiert. Sie sind Projektionsfläche und Emblem eines lauten und modernen Feminismus geworden. In den Jahren nach ihrer Freilassung gründete Tolokonnikowa mit Maria Aljochina, ebenfalls Pussy-Riot-Mitglied, die anti-putinistische Plattform Mediazona, sie veröffentlichte ihren Briefwechsel mit Slavoj Žižek, und vor wenigen Wochen eröffnete sie die Soloausstellung Rage im OK in Linz.

Schrei aus der Seele

Vor der Neuen Nationalgalerie stehen mittlerweile ein paar Leute mit neonpinken Sturmhauben, in schwarzen Kleidern und Netzstrumpfhosen in einem Halbkreis, anonym und maximal auffällig, Tolokonnikowa in ihrer Mitte. Ruhig geht sie auf und ab, während sie ins Mikrofon schreit, über stark verzerrte Synthesizer, die auch Gitarren vom Band sein könnten – für ihre frühen Auftritte benutzte Pussy Riot oft die Instrumentalspuren anderer Bands. Der Sound erinnert an ein Hardcore-Konzert, nur bleibt das Publikum ruhig wie bei einer Kunstperformance. Irgendwann beginnt es zu regnen, die Zuhörer*innen spannen ihre Regenschirme auf. Viele gehen. „Ich brauche Platz, denn ich schreie mir hier die Seele aus dem Leib“, sagt Tolokonnikowa zum nahe stehenden Publikum.

Ihre Arbeit verstehe sie auch als Agitprop, erklärte sie kürzlich in einem Interview in der Zeit – von guten Künstler:innen könne es gute Propaganda geben. Im Hintergrund der Performance hängen vom hohen Architrav der Neuen Nationalgalerie drei pinkfarbene Banner, dort steht auf Russisch und in altertümlicher Schrift: Liebe ist stärker als Angst, ein Zitat des unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen Dissidenten Alexej Nawalny. Kunstmachen sei inzwischen ein Verbrechen, schrieb die russisch-amerikanische Journalistin Masha Gessen im vergangenen Jahr, nachdem zwei weitere Künstlerinnen festgenommen worden waren. Abweichende Meinungen sind meist nur noch aus dem Exil zu hören, Tolokonnikowa lebt mittlerweile in Los Angeles.

Dies alles findet während des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine statt. In den sozialen Medien regt sich Kritik, und so wichtig dissidente Stimmen aus Russland sind, komme ich nicht umhin, mich zu fragen: Ukrainische Künstler*innen sind zwar präsent in kleinen Berliner Institutionen und Projekträumen, aber wann dürfen sie eine solche Performance vor einem Monumentalbau aufführen? Dürften ukrainische Künstler*innen so unreflektiert belastete Begriffe wie Agitprop und Propaganda benutzen? Auf dem Dach des von Mies van der Rohe entworfenen Museums geht eine Rauchbombe hoch. Pinker Qualm steigt auf, und die Sonne geht unter. Kein Riot bricht aus, und alle gehen nach Hause.