Proteste in jener Türkei: „Recht, Gesetz, Gerechtigkeit“, schreit die Masse
Seit dem frühen Morgen reihen sich Tausende Menschen in
Istanbul in Warteschlangen ein. „Normalerweise stehen wir Türken an einem
Sonntag nicht so früh auf“, sagt eine Frau im Viertel Kadıköy auf der
asiatischen Seite der Stadt. Doch am heutigen Sonntag sei das anders, denn es
gehe um alles, meint sie und wird von einem plötzlichen Sprechchor
unterbrochen. „Recht, Gesetz, Gerechtigkeit“, schreit die Masse. Manche
strecken ihre Faust in den Himmel, andere brüllen die Worte so laut, als hinge
ihr Leben davon ab.
Die größte Oppositionspartei, die links-patriotische CHP,
hat zu einer landesweiten Abstimmung aufgerufen. Ursprünglich sollten nur
Parteimitglieder ihre Stimme abgeben, um den Oberbürgermeister Istanbuls, Ekrem İmamoğlu, zum nächsten Präsidentschaftskandidaten der CHP und damit zum
Herausforderer des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner
Regierungspartei AKP zu küren. Doch İmamoğlu wurde vor fünf Tagen in
Polizeigewahrsam genommen. Seitdem finden landesweit Proteste statt, wie die
Türkei sie seit mehr als zehn Jahren nicht erlebt hat. Die CHP forderte
daraufhin die gesamte Bevölkerung auf, sich an ihrer Abstimmung zu beteiligen.