Proteste gegen iranische Regierung: Wenn die Revolution der einzige Ausweg ist

Trotz Drohungen von Seiten des Regimes halten die Proteste in Iran an. Diesmal sei vieles anders als bei den landesweiten Protesten 2017 und 2019, schreibt der Politologe Ali Fathollah-Nejad. Er forscht unter anderem zur
transatlantischen Außenpolitik gegenüber Autokratien, außerdem ist er der Initiator des Berlin Mideast Podcast der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der aktuelle Aufstand, schreibt der Iran-Experte, weise die größte gesellschaftliche Basis aller Proteste in der über vier Jahrzehnte langen Geschichte der Islamischen Republik auf.

Der Aufstand in Iran, ausgelöst durch den Tod der 22-jährigen kurdischen Iranerin Mahsa „Jina“ Amini in Polizeigewahrsam, geht bereits in die siebte Woche. Seit Beginn ging es den Iranerinnen und Iranern nicht mehr nur um die staatlich oktroyierten Kleidungsvorschriften, sondern um einen Regimewechsel in den Worten der in Iran inhaftierten Menschenrechtsanwältin und Trägerin des Sacharow-Preises für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments, Nasrin Sotoudeh. Auch der auf die Niederschlagung von Straßenprotesten ausgerichtete, hochbudgetierte Repressionsapparat der Islamischen Republik konnte bislang diese revolutionäre Bewegung nicht beenden. Denn diesmal ist es anders als bei den landesweiten Protesten gegen das Regime 2017 (Dey-Proteste) und es ist anders als bei den Protesten im November 2019 (Aban-Proteste).

Mit den aktuellen Protesten scheint das Land vollends in einen revolutionären Prozess eingetreten zu sein. Dieser allerdings hat bereits, weitgehend unbemerkt von vielen Beobachtern, vor einem halben Jahrzehnt begonnen. Denn bei den Dey-Protesten gingen zum ersten Mal die unteren Schichten gegen das Regime auf die Straße: Jene also, die bis dahin als soziale Basis der Islamischen Republik oder als zumindest ihr gegenüber loyal angesehen wurden. Ausgelöst durch Preissteigerungen, verbreiteten sich die Proteste damals wie ein Lauffeuer in landesweit rund 100 Städten. Die skandierten Parolen wurden schlagartig politisch und nahmen alle Komponenten des Regimes ins Visier: den klerikalen (die herrschende schiitische Geistlichkeit) als auch den militärischen (die Islamischen Revolutionswächter) Pfeiler der Machtstruktur sowie beide Fraktionen der politischen Elite, die Hardliner ebenso wie die Reformisten.

Letztere wurden somit zum ersten Mal Gegenstand des Volkszorns, nachdem sie bei der Grünen Bewegung 2009 noch als Hoffnungsträger galten. Die Dey-Proteste waren somit ein Schockmoment für die gesamte Elite. Die Nobelpreisträgerin Schirin Ebadi sah in ihnen damals den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte der Islamischen Republik. Ich begriff sie als Anfang eines langfristigen revolutionären Prozesses in Iran, denn immerhin verlor das Regime die Unterstützung großer Teile der unteren Schichten. Die theokratische Oligarchie hatte sich zusehends gegenüber den Belangen der Armen indifferent gezeigt.

Zudem hat ein Blick auf die sozio-ökonomischen und politischen Indikatoren Irans gezeigt, dass es wider weit verbreiteter Ansichten keinen iranischen Exzeptionalismus gibt: Denn wie auch ihre arabischen Nachbarn, leidet die Islamische Republik an einer strukturellen sozio-ökonomischen und politischen Krise, die die wirtschaftliche und politische Macht monopolisierende Elite nicht zu lindern weiß, ohne bei sich selbst schmerzhafte Reformen einzuleiten.  

Die Mittelschicht protestiert mit

Die Dey-Proteste fanden ihre de facto Fortführung mit den Aban-Protesten anderthalb Jahre später. Ausgelöst durch eine Verdreifachung des Benzinpreises über Nacht, strömten diesmal viermal so viele Menschen landesweit auf die Straßen. Das Regime reagierte panisch, schaltete das Internet ein bis drei Wochen aus, während schätzungsweise 1.500 Menschen umgebracht wurden. Amnesty International sprach von „shoot to kill“-Anweisungen an die Sicherheitskräfte und einem daraus resultierenden „killing spree“. Die Aban-Proteste sollten sich aufgrund dieses Ausmaßes an staatlicher Brutalität in das kollektive Gedächtnis der Iranerinnen und Iraner einbrennen.

Diesmal umfasste die soziale Basis der Proteste neben den unteren Schichten auch die untere Mittelschicht, die als „middle class poor“ bezeichnet wird: Jene mit für die Mittelschicht typischen Qualifikationen, wie Universitätsabschlüsse, die allerdings wegen der ideologischen Grundierung der politischen Ökonomie und den Aufstiegschancen, vor allem für Regimeloyale, in Armut verharren.

Doch beide Proteste wurden niedergeschlagen, aus einer Kombination starker Repression und dem Fernbleiben weiter Teile der Mittelschicht. Ebenjener „missing link“ der intersektionalen Dimension wird mit dem gegenwärtigen Aufstand abgedeckt, zumal er schichten- und ethnienübergreifend ist. Es ist jenes Schichtenübergreifende, das das Regime bislang zu verhindern wusste und das in der ersten Phase des Arabischen Frühlings maßgeblich dazu beigetragen hatte, die Diktatoren in Tunesien und Ägypten zu schassen. Denn auch die Tausenden jährlichen sozialen Proteste – 4.000 allein im vergangenen Jahr und 2.200 im ersten Halbjahr dieses Jahres – seitens unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen waren zwar Ausdruck einer sehr breiten Unzufriedenheit, doch waren all diese isoliert voneinander. Nun scheint es, dass sich diese bis dahin fragmentierten Kämpfe zu einem Tsunami verdichtet haben.

Der gegenwärtige Aufstand weist somit die größte gesellschaftliche Basis aller Proteste in der über vier Jahrzehnte langen Geschichte der Islamischen Republik auf. An vorderster Front stehen mutige Frauen und junge Menschen. Zur Letzteren gehören 16- bis 25-Jährige sowie die Altersgruppe 25 bis 30, von denen viele zu den „middle class poor“ gerechnet werden können. Diese drei Gruppen haben eines gemeinsam: Unter ihnen ist die Arbeitslosigkeit vergleichsweise hoch. Sie haben keine Hoffnung in das bestehende System, weder wirtschaftlich noch politisch. Denn diese Elite monopolisiert die ökonomische und politische Macht. Sie lässt kaum Spielraum für persönliche Entfaltung und Partizipation.

Armut stark gestiegen

 Im vergangenen Jahrzehnt ist die Armut in Iran stark angestiegen: Während zur Zeit der Dey-Proteste schätzungsweise 50 Prozent der Bevölkerung betroffen waren, geht man heute von Dreiviertel der Bevölkerung aus. Die Erosion der Mittelschicht und die Erosion des politischen Bewusstseins der Unterschichten hat auch die Grenze verschwimmen lassen zwischen einer nach sozio-kulturellen und nach politischen Freiheiten dürstenden Mittelschicht und einer Unterschicht, die sich mit der sozialen Frage beschäftigt.

Indes bleibt abzuwarten, inwieweit die intersektionale Dimension des Aufstands zu einer Allianz wird. Wir sehen bereits Streiks von Vertragsarbeitern in zentralen Sektoren der Wirtschaft. Um Schlagkraft zu entfalten, bräuchten sie noch die Beteiligung der Festangestellten. Aber es gibt bereits seitens der Arbeiterbewegung Köpfe, die im Hauptslogan „Frau, Leben, Freiheit“ eine gemeinsame Basis sehen für ihre Interessen, und die für großangelegte Streiks zur Unterstützung dieser revolutionären Bewegung plädieren.

Es gehört zu den Eigenarten revolutionärer Prozesse, dass deren Dauer unsicher ist und sie Phasen der Ruhe und Aufruhr beinhalten. Denn nicht zuletzt hat diesmal in den Köpfen der Iranerinnen und Iraner, nicht nur im Inland, ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Es gibt nun die kollektive Erkenntnis, dass für kaum eine soziale Gruppe in den bestehenden Verhältnissen Hoffnung besteht – egal ob sozio-ökonomisch oder politisch –, und somit das wegen der traumatischen Erfahrung mit der Islamisierung der Revolution von 1979 und der Errichtung einer noch brutaleren Diktatur lange als Tabu geltende Konzept der Revolution als einziger Ausweg verstanden wird.