Proteste gegen AfD-Parteijugend: Ein kleinster Teil Selbstwirksamkeit
Kira Böhme hat viereinhalb Stunden Fahrt hinter sich und kaum geschlafen. Jetzt sitzt sie morgens um 6 Uhr mit etwa 50 anderen Aktivisten auf einer Brücke in Gießen, der Asphalt vom Regen ganz nass, vor ihr eine Kette schwer gepanzerter Polizeikräfte. Böhme und ihre Gruppe haben sich gelbe Warnwesten über ihre Skihosen und Winterjacken gezogen, wie die meisten, die an der Aktion von Widersetzen teilnehmen. Die Brücke führt auf die andere Seite der Lahn. Dort, in den Hessenhallen, wird die AfD an diesem Samstag ihre neue Jugendorganisation gründen.
Kira Böhme ist aus Magdeburg angereist. Die 22 Jahre alte Studentin ist
in Sachsen-Anhalt aufgewachsen und macht sich große Sorgen. „Ich habe
wirklich Angst um meine Sicherheit,“ sagt sie. „Ich kenne so viele
Menschen in meinem Umfeld, die Probleme mit Rechten haben.“ Kommenden
September wird in ihrem Bundesland gewählt. Die AfD liegt in aktuellen
Umfragen bei vierzig Prozent. Ein Sieg der Partei werde ihre Heimat nichts
Gutes bedeuten, sagt sie. Viele ihrer Freunde würden sich fragen: Ziehen
wir besser weg, wenn die AfD das Land übernimmt? Deswegen sitzt sie
jetzt hier, um sechs Uhr morgens, irgendwo in Gießen, umgeben von
Polizei. Der Nachthimmel über der Lahn leuchtet blaulichtblau.
Über 200 Busse aus 80 Städten hatte das Aktionsbündnis Widersetzen organisiert, um die Zufahrt zu den Hessenhallen zu blockieren und so die Gründung der AfD-Jugendorganisation zu verhindern. Hinter „Widersetzen“ hat sich ein breites Bündnis aus Organisationen, Gewerkschaften, Vereinen und Parteijugenden versammelt. Organisationen wie der DGB, ver.di, Attac und die Omas gegen Rechts organisierten Kundgebungen und Mahnwachen. Auch Linke und Grüne Jugend demonstrierten mit. 50.000 Menschen wollten sie auf die Straße bringen, am Ende wurde es die Hälfte.
Die Polizei hatte AfD und Demonstranten feinsäuberlich getrennt, westlich des Flusses in der Messe versammelte sich die Partei, nur auf der anderen Seite durfte protestiert werden. Eilklagen der Veranstalter, die sich ihres Versammlungsrechts in Hör- und Sichtweite beraubt sahen, wies das Hessische Verwaltungsgerichtshof am Freitagabend
zurück.
Die Mitstreiter von Kira Böhme haben sich über die ganze Stadt verteilt. Aufgeteilt in nach Farben benannten „Fingern“ blockieren sie Zufahrtsstraßen und Autobahnabschnitte. Einige seilen sich von Brücken ab oder kleben sich am Asphalt fest. Eine Gruppe von Aktivisten hat sich an einen Kleinbus gekettet und blockiert eine Brücke. Die Strategie geht auf. Um 10 Uhr brandet bei den Demonstranten Jubel auf. Von den etwa 1000 angemeldeten Teilnehmern der AfD-Veranstaltung haben es bis dahin gerade mal 200 in die Halle geschafft. Selbst die Fahrzeuge der Parteiführung samt Polizeieskorten stecken auf der Autobahn fest. Der Gründungskongress der AfD-Jugend kann erst mit zweieinhalb Stunden Verspätung beginnen.
Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) hatte im Vorhinein kritisiert, das Bündnis Widersetzen bewege sich „in einer hochproblematischen rechtlichen Parallelwelt, wenn es sich und seinen Unterstützern ein Recht zur Verhinderung der AfD-Veranstaltung zuspricht“. Und er warnte vor Ausschreitungen: „Jeder Gewalttäter ist ein Feind unserer Demokratie, egal, ob er links oder rechts steht.“
Ein Großteil der Proteste bleibt laut Polizei friedlich, trotzdem kommt es im Laufe des Tages immer wieder zu kleineren Auseinandersetzungen zwischen Beamten und Protestierenden. Auch Teilnehmer der AfD-Veranstaltung wurden offenbar bedrängt und attackiert. Besonders heftig ist ein Vorfall, der als Video auf der Plattform X verbreitet wurde. Der Clip zeigt, wie der Marburger AfD-Politiker Julian Schmidt von einem vermummten Demonstranten mit der Faust ins Gesicht geschlagen wird. Womöglich sei seine Nase gebrochen, sagte er später im Gespräch mit der ZEIT. Sein Gesicht weist deutliche Schrammen auf Nase und Wange auf, Blutflecken auf dem weißen Hemd. Eine Antwort des Bündnisses auf den Vorfall steht noch aus.
Am Ende des Tages spricht die Polizei von zehn leicht verletzten Beamten. Über verletzte Demonstranten lägen keine gesicherten Zahlen vor. Auch Widersetzen kann dazu keine Angaben machen.
Bis zum Nachmittag ziehen die Demozüge durch die Gießener Innenstadt.
Samba-Truppen trommeln, auf der DGB-Bühne spielen die Gießener Band Juli
und Kraftklub, die Bässe wummern. Das „Adenäuerchen“-Lastenrad, ein
Gefährt des Zentrums für politische Schönheit, kreist vor den
Polizeiketten und spielt den Chorgesang „Scheiß AfD“ in Dauerschleife.
Am Bahnhof haben sich die Omas gegen Rechts versammelt, aus Essen, Hannover, Berlin. Nie wieder dürfe sich der Faschismus in Deutschland ausbreiten, sagt Maja, 73. Vater und Großmutter sei während des Nazi-Regimes die Flucht gelungen. Beide waren Juden.
Kira Böhme sitzt zu dieser Zeit wieder in einer Blockade, diesmal an einer anderen Brücke. Plötzlich rückt die Polizei vor, es gibt Tumult, sie erzählt von Schlägen, die sie abbekommen habe. „Heftig“, habe sie das gefunden. Sie fragt sich, warum diese Gewalt, „ich war doch einfach nur da“. Dieser Tag in Gießen hat sie nachdenklich gemacht und trotzdem würde sie immer wieder gegen die AfD auf die Straße gehen. „Die Proteste geben mir Selbstwirksamkeit“, sagt sie. Irgendwie etwas bewirken. Allein darum gehe es doch.