Protest im Iran: Jede Frau im Widerstand ist ein Stachel im Fleisch des Systems

Eine junge Frau, am Leib nicht mehr als einen Slip und einen
BH, die Arme vor dem Körper verschränkt, läuft auf und ab
, Menschen gehen an
ihr vorbei, es ist Herbst, es ist kalt. Ihre nackte Haut sticht inmitten lauter
dunkel gekleideter Menschen heraus. Solch eine Szene würde vielleicht auch auf
einem Unicampus in Berlin-Mitte auffallen.

Im Iran hingegen ist solch eine Szene nicht nur auffällig.
Sie ist ein globales Ereignis. In einem Staat, in dem Frauen nicht aus dem Haus
gehen dürfen, ohne ihren gesamten Körper zu bedecken, in dem Frauen dafür
getötet werden können, wenn sie es wagen, ihr Kopftuch abzulegen. In diesem
Staat zeigt sich eine junge Frau der feindlichen Welt um sie herum in
Unterwäsche. Pinker Büstenhalter, hell gestreifter Slip. Die langen schwarzen
Haare bedecken ihren entblößten Rücken.

Ahoo Daryayi soll ihr Name sein. Ahoo bedeutet auf Persisch
„Reh“; Daryayi heißt „des Meeres“. Sie soll Studentin sein. Viel mehr ist über die
Frau, die der Welt dieses ikonische Video geschenkt hat, nicht bekannt. Sie
soll am 2. November von der berüchtigten sogenannten Sittenpolizei bedrängt
worden sein, weil sie ihr Kopftuch nicht „richtig“ getragen habe. Als die
Sittenwächter sie verschleppen wollten, habe sie sich gewehrt, so wird es berichtet.

Man muss bei all dem in Konjunktiv bleiben, wie man bei allen
Nachrichten, die aus dem Iran stammen, im Konjunktiv bleiben muss. Es gibt
keine freien Medien, keine freie Rede. Kein Journalist kann der Geschichte
nachgehen, ohne selbst Gewalt zu befürchten. So bleibt vor allem das Video, das
beweist, dass es wirklich eine Frau gibt, die sich auf dem Campus der
Asad-Universität ausgezogen hat. Beim Versuch, die junge Studentin in ihr Auto
zu ziehen, hätten die Sittenwächter ihr ihren Pullover vom Körper gezogen. Vielleicht
aus Angst, vielleicht aus Ohnmacht, soll sich Ahoo Daryayi, so soll sie hier
weiterhin genannt sein, die Hose ausgezogen und sie ihren Peinigern vor die
Füße geworfen haben. So stand sie dann da, ohne Kleidung. Sie setzte sich auf
eine Mauer, sie lief umher. Stumm. Im Protest, möchte man annehmen, gegen den
Kampf eines Staates gegen ihren Körper.

Der Körper einer Frau: Er ist und bleibt Projektionsfläche
für systematische Gewalt, nicht nur im Iran. Für Gesetze, die diesen Körper zu
regulieren und zu unterdrücken suchen. Er darf keine Lust empfinden, er darf
nicht verführen, er muss gebären und er muss ertragen. In der Islamischen
Republik bedeutet das: Der Körper der Frau gehört dem System. Dem männlichen
System. Er wird in den Haftanstalten vergewaltigt, er wird in Kerker gesteckt,
wenn der Geist im Körper nicht gehorcht, er wird verschleppt, misshandelt,
getötet.

Das ist die Realität aller Frauen in der Islamischen
Republik. Die tägliche Konfrontation mit der eigenen Unterdrückung. Nicht nur
das Video von Ahoo Daryayi zeigt: Die Frauenbewegung in Iran ist lebendiger
denn je. „Niemand von uns trägt mehr das Kopftuch“, sagt Pari Mohammadi. Die
33-Jährige ist Künstlerin und Universitätsdozentin in Shiras, ihr echter Name
steht nicht in diesem Text, um sie zu schützen. In ihren Seminaren trägt keine
ihrer Studentinnen den verpflichtenden Hijab. „Wir gehen nicht mehr zurück“,
sagt sie.

Seit den „Frau, Leben, Freiheit“-Protesten im Jahr 2022 hat
sich das Land verändert. Zum ersten Mal in der Geschichte der Islamischen
Republik legten Frauen kollektiv ihre Kopftücher ab, um gegen die systematische
Unterdrückung zu protestieren. Viele von ihnen, vielleicht die meisten, haben
es nicht mehr aufgesetzt
. Obwohl die Machthaber nichts unversucht ließen:
Gesetzesverschärfungen; Spione, eigentlich also Denunzianten, in Büros,
Universitäten und Fabriken; rohe Gewalt. Jedes abgenommene Kopftuch ist ein Stachel
im Fleisch des Systems. „Wenn du abends durch Teheran läufst und die
Restaurants und Cafés siehst“, sagt Pari Mohammadi, „wirst du nicht glauben,
dass du im Iran bist.“ Die stille Frauenrevolution.

Die Gewalt gegen Frauen hat dennoch nicht abgenommen. Jedes
abgesetzte Kopftuch bedeutet auch Gefahr. Der Staat habe Pari Mohammadi
mehrmals ihr Auto weggenommen, weil sie ihren Hijab beim Fahren nicht trug. Dabei
hat sie noch Glück gehabt. In den vergangenen Monaten sind wieder Frauen
verschleppt, inhaftiert und misshandelt worden, weil sie sich dem
Verschleierungszwang widersetzten. Sie machen trotzdem weiter.

In einer Situation, in der jeder zivile Protest von Frauen Gefahr
für Freiheit und Leben ist, hat Ahoo Daryayi ein Zeichen gesetzt, das in seiner
Kraft kaum zu überschätzen ist. Das Bild von ihrem halb nackten, man möchte
sagen stolzen Körper ist nicht zu übersehen in den sozialen Medien, wird
verewigt in Zeichnungen, Karikaturen, Huldigungen. Neue Proteste auf den
Straßen aber wird auch Ahoo Daryayi kaum auslösen. Zu tief sitzt den Menschen
die Gewalt in den Knochen, die der Staat seit den „Frau, Leben,
Freiheit“-Protesten ausgeübt hat. Die Brutalität hat in den vergangenen zwei
Jahren neue Höhen erreicht. Genau das war das Ziel: Angst zur vorherrschenden
Emotion zu machen.

Aus diesem Grund, davon ist leider auszugehen, wird das
Regime Ahoo Daryayi hart bestrafen. Schon kurz nachdem die ersten Videos von
ihr im Internet aufgetaucht waren, verkündete das Regime, die Studentin habe
„psychische Probleme“. In einem frauenfeindlichen System können Frauen, die
mutig sind, die sich widersetzen, die ihren Körper nicht unterdrücken lassen,
natürlich nur verrückt sein.

Die junge Frau wurde festgenommen und verschleppt. Niemand
weiß, wo sie ist, ob und wann sie wieder auftauchen wird. Um ihrer selbst
willen, um der Menschen willen, die sie lieben, hofft man, dass sie die Strafe
der Machthaber überleben wird.