Protest durch Musik: Sag mir, wo die Lieder sind

Als Donald Trump 2016 zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, war musikalisch einiges los. Songs, Alben und ganze Compilations an Protestsongs wurden geschrieben. Die Indieband Death Cab for Cutie machte sich über Trumps Selbstbild als Selfmade-Man lustig, A Tribe Called Quest schrieben mit We The People das Wutpendant im Hip-Hop. Fiona Apple besang Trumps tiny hands, das Stück wurde zu einer Art inoffizieller Hymne der Women’s-March-Bewegung. Der britische Singer-Songwriter Frank Turner forderte: Let’s be the sand in the gears for the next four years.

Etwa zu den Midterms veröffentlichte – na klar – Bruce Springsteen einen Protestsong gegen Trump, der ging allerdings ziemlich unter. 2020, zum Ende von Trump 1, nahm sogar die bis dahin praktisch unpolitische Taylor Swift das Thema auf und kritisierte die Politik des scheidenden Präsidenten in Only The Young. Die Fehde zwischen den beiden brach bekanntlich in Trump 2 wieder los, allerdings nicht auf einer musikalischen Ebene, eher in trumpschen CAPSLOCK-Nachrichten.

Und heute? Ende August veröffentlichte Neil Young einen Song namens Big Crime. No more great again lautet die Opening Line. Später wird es deutlicher: Got to get the fascists out / Got to clean the White House out. Nun ist eine harsche Kritik von Neil Young nicht übermäßig ungewöhnlich, außerdem steht der Mann seit etwa 150 Jahren auf Bühnen und ist – auch das noch – Kanadier. Der Song erzeugte nicht einmal übermäßig viel Resonanz, abgesehen von ein paar Notizen in Fachmagazinen. Die Abrufzahlen sind überschaubar. Und doch ist seine schiere Existenz eine kleine Nachricht.  

Denn angesichts der aktuell recht desolaten Weltlage stellt sich die Frage: Was ist eigentlich aus dem Genre des Protestsongs geworden? 

Früher: jeder Krise ihr Protestsong

Als 1942 Sophie Scholls Vater eingekerkert wurde, weil er Hitler zu kritisieren gewagt hatte, spielte seine Tochter vor den Gefängnistoren auf der Blockflöte Die Gedanken sind frei. Das Lied selbst ist weitaus älter. Bella Ciao, ursprünglich ein Arbeiterlied, wurde zur Partisanenhymne des Antifaschismus. Where have all the flowers gone?, fragte Pete Seeger 1955 nach dem Krieg – in den frühen Sechzigern wurde der Folk populär, mit Künstlern wie Joan Baez und Bob Dylan. In Deutschland stellten sich Liedermacher wie Hannes Wader und Konstantin Wecker in die gleiche pazifistische Tradition. Etwa eineinhalb Jahrzehnte später wurde Punk groß und wütend. Der Vietnamkrieg produzierte eine Vielzahl an Antikriegshymnen, nicht zuletzt Springsteens Born in the U.S.A., das 1984 die Probleme der von der Regierung alleingelassenen Veteranen beschrieb.

Eine kurze, für diesen Text nicht unbedingt wichtige, aber einfach zu schöne Anekdote: Springsteens Born in the U.S.A. wird seit Erscheinen regelmäßig als patriotische Hymne missverstanden. So sehr, dass Trumps Team ihn sogar als Künstler für die erste Inauguration angefragt hatte. Springsteen, bekanntlich den Demokraten nahestehend, sagte natürlich ab. Trumps Leute versuchten es, offensichtlich verzweifelt, bei einer Springsteen-Coverband namens B-Street-Band. Auch die sagte ab. Am Ende kamen Three Doors Down, von denen man seitdem nicht mehr viel gehört hat.

Zurück zum Thema: So ziemlich jede Krise des 20. Jahrhunderts brachte ihre Protestsongs mit sich, und so ähnlich begann auch dieses. 9/11, Krieg in Afghanistan, Krieg im Irak. American Idiot, attestierten Green Day dem damaligen Präsidenten George W. Bush, Pink schrieb einen musikalischen Brief mit dem Titel Dear Mr. President.  

Heute: nirgends musikalischer rage against the machine

Sprung in die Gegenwart. Im Sudan tobt die schlimmste Hungerkatastrophe der Welt. Israel zerbombt den Gazastreifen und feuert alle paar Tage Raketen auf so ziemlich jedes Nachbarland in der Region. Russland zerfleischt die Ukraine, keine Anzeichen eines wind of change. Ein besorgniserregender Rechtsruck in zahlreichen westlichen Demokratien. Die Faschistisierung in den USA schreitet voran, selbst Comedians haben nichts mehr zu lachen. Medienhäuser und Universitäten werden drangsaliert, die Nationalgarde patrouilliert in den Straßen, Menschen werden deportiert oder grundlos weggesperrt. Die politische Gewalt nimmt zu. 

Ein bemerkenswerter kreativer Widerstand dagegen ist allerdings nicht zu erkennen. Sicher, es gibt Einzelbeispiele über Neil Young hinaus, aber im Großen und Ganzen bleibt die Playlist mit namhaften Künstlern eher kurz. Kein Bono, der ein Live Aid organisiert. Keine Pussy Riot. Kein gesungener Protest. Keine Empörung als Generationenkonflikt, keine musikalische Rebellion. Nirgends tobt irgendein rage against the machine. Wieso ist das so? Ein paar Thesen. 

Die naheliegendste zuerst: Die Angst geht um. Universitäten und mächtige Fernsehsender beugen sich, die amerikanische Tech-Elite biedert sich vollends wirbellos dem US-Präsidenten an, selbst in der internationalen Diplomatie gilt man schon als Macher, wenn man sich nur tief genug verbeugt, dass man das Weiße Haus anschließend ohrfeigenfrei verlassen kann. Die US-Regierung muss ja nicht einmal die Künstler direkt angreifen (wie Trump es mit Swift tat). Es reicht, wenn Labels, Radiosender und Konzerthallen präventiv den Kopf einziehen.

Das gilt nicht nur in den USA, das gilt auch beim Nahostkonflikt, obgleich auf andere Weise. Protestlieder haben in ihrer Geschichte immer überreizt, provoziert, mit Sprache gespielt. Das macht ja ihr Wesen aus. Musiker sind keine Journalisten, keine Politiker und keine Juristen. Wut, Biss und Satire sind ihre Instrumente. Bloß ist die Debatte um Genozid, angebliche Apartheid, Kriegsverbrechen, Existenzrecht und Staatsräson längst so zum Zerbersten gespannt, dass jede Leerstelle, jeder unreine Reim zur gefährlichen Untiefe wird. Siehe zum Beispiel Macklemore oder die Antilopen Gang

Das führt zur zweiten These: Der Protest, egal wogegen, hat den lyrischen Raum längst verlassen. Er wird entweder kurzsilbig in ein soziales Netzwerk geschleudert, oft genug wenig freundlich und höchst selten geistreich. Oder er wird auf 30.000 Zeichen in einem Essay ausbuchstabiert, historisch hergeleitet und durchexerziert.

Dazwischen ist viel Leere. Entweder ist es das pure Gefühl (Wut) oder die reine Vernunft (Analyse), Protestsongs waren meist von beidem ein bisschen. Ein guter Song ist weder eine geopolitische Analyse zum Für und Wider der Proliferation, noch ist er eine zum Beispiel antisemitische Parole. So, wie Debatten aktuell geführt werden, würde genau dieses Ungefähre allerdings praktisch garantieren, dass irgendjemand Text und Musik absichtlich missversteht oder für die eigenen Zwecke missbraucht. Will auch keiner.

Stattdessen, dritte These, ist immer häufiger zu beobachten, dass auch die Künstlerinnen und Künstler den Raum der Kunst selbst verlassen und sich stattdessen lieber, wenn überhaupt, prosaisch positionieren. „Free Palestine“-Rufe zwischen zwei Songs von der Bühne, offene Briefe, Social-Media-Posts und gelegentlich klare Meinungen in Interviews.  

Die Musik als Ventil fehlt

Damit gibt die Musik, die Kunst im Allgemeinen, ihren stärksten Trumpf aus der Hand. Wut und Trauer in einem Songtext haben andere Grenzen des Sagbaren als das im Diskurs gesprochene Wort. American Idiot als Frustvokabel ist in einem Wutlied anders zu bewerten als in einer politischen Debatte. Musik kann das Argument nicht ersetzen. Sie kann jedoch Ventil sein für Gefühle, die jeden rationalen Austausch vernebeln würden. Musik braucht keine Argumente. Oder, wie es das Handbuch der Populären Musik über die Entstehung der Protestsongs in den USA der 60er beschreibt: „Über einen romantisch-utopischen Antikapitalismus gelangte das in den Grundpositionen zwar kaum hinaus, hatte im Prozess des politischen Bewusstwerdens einer Generation junger Amerikaner aber eine wichtige Funktion.“  

Daraus folgt, etwas vereinfacht gesagt: Es würde einer mit Frust, Angst und Sorgen aufgeladenen Gesellschaft – egal ob in den USA, Deutschland oder sonst wo – guttun, mal wieder ein paar wütende Texte zu treibenden Beats oder verzerrten Gitarren zu hören. Jedenfalls mehr, als es Interviews und Social-Media-Posts von Popstars tun. Und wenn dann mal ein Reim verunglückt ist, darf sich ein jeder gern darüber empören. Das immerhin war früher auch nicht anders.