Prinzip des Nudging: Gutes Leben leichtgewichtig gemacht
Jeder hat seine Dinge, die sollte man tun, aber irgendwie passiert es nie richtig. Mehr Obst zu essen, zum Beispiel. Öfter das Fitnessstudio zu besuchen und sich insgesamt mehr zu bewegen. Weniger Geld auszugeben und mehr zu sparen. Mancher will sich morgens den Kaffee zu Hause machen, statt jeden Tag vier Euro beim Café unterwegs auszugeben. Andere wollen endlich einen Organspendeausweis ausfüllen. Fast jedes lang gehegte Vorhaben, das einen Neujahrsvorsatz hergibt, ist auch ein Ausweis menschlicher Schwäche.
Doch dagegen schien ein Mittel gefunden zu sein, so wirkte es zumindest im Jahr 2008. „Nudge“ hieß dieses Mittel, auf Deutsch: ein Anstoß. Ein kleiner Stupser, öfter mal das Richtige zu tun. Wenn die Kantine die Schokoriegel ein bisschen weiter hinten platziert und dafür das Obst nach vorne rückt, zum Beispiel. Wenn im Urinal der Männertoilette ein Fliegenbild klebt, auf das Männer zielen können. Wenn der Geldautomat wartet, bis die Karte abgezogen ist, bevor er das Geld ausspuckt, damit die Nutzer ihre Karte nicht vergessen. Wenn das Finanzamt im Steuerbescheid mitteilt: „Die meisten Menschen zahlen ihre Steuern rechtzeitig.“
So kleine Veränderungen reichten schon aus, um Menschen zu besserem Verhalten zu verhelfen – besser in dem Sinn, dass sie selbst es so mögen. „Nudge – wie man kluge Entscheidungen anstößt“, so hieß ein Buch des Verhaltensökonomen Richard Thaler und des Juristen Cass Sunstein aus dem Jahr 2008. „Um als bloßer Nudge zu gelten, muss die Intervention leicht und günstig zu umgehen sein“, schrieben sie.
Sollte alles wirklich so einfach sein?
Dutzende von Erfolgsbeispielen fanden sich in den kommenden Jahren. Wenn amerikanische Arbeitgeber ihre Mitarbeiter automatisch für ein privates Altersvorsorgeprogramm einschrieben, dann legten die Mitarbeiter mehr Geld fürs Alter zurück als ohne. Und wenn in einem Land die Menschen standardmäßig als Organspender galten, dann gab es in jenem Land auch mehr Organspender. Hauptsache, die Betroffenen können alldem leicht widersprechen.
„Liberaler Paternalismus“ hieß die Philosophie: Man darf den Leuten schon in ihr Leben hineinreden, man darf es ihnen nur nicht zu schwer machen, sich davon wieder zu lösen. Das klang auch für Regierungen attraktiv. Rund um die Welt wurden sogenannte „Nudging-Units“ gegründet, die untersuchen sollten, wie Staaten ihre Bürger zu einem besseren Leben bewegen könnten. 200 davon zählte die Industrieländerorganisation OECD im Jahr 2019.
Sollte alles wirklich so einfach sein? Die Menschen sind nur ein bisschen zu schwach, sich selbst um alles zu kümmern – und wenn wohlmeinende Arbeitgeber oder Regierungen sich für sie darum kümmern, dann wird schon alles gut?
Zweifel am Nudging
Doch dann kam der Januar 2020 und mit ihm ein Mittagessen in San Diego. Dort hatten sich rund 13.000 Ökonomen zur weltgrößten Konferenz ihrer Wissenschaft getroffen. Draußen herrschten 21 Grad und Sonnenschein am Hafen, trotzdem saßen selbst beim Mittagessen Hunderte in einem fensterlosen Konferenzraum, um sich die Rede von David Laibson anzuhören, einem bekannten Verhaltensökonomen aus Harvard, der sich seit Jahren mit Nudging beschäftigt. Laibson stand auf – und rechnete in wissenschaftlicher Sachlichkeit mit dem Nudging ab.
Er erzählte zum Beispiel von einem Versuch, Menschen zum Sport zu motivieren. Eine amerikanische Fitnessstudio-Kette hatte zwei Jahre lang mit einem Team von Ökonomen neue Wege gesucht. Unterschiedliche Forscher unternahmen 54 Einzelversuche mit insgesamt 61.000 Studiomitgliedern – doch sie wirkten vor allem kurzfristig. Andauernde Erfolge waren so klein, dass sie kaum besser waren als der Zufall.
Und er erzählte von Unternehmen, die ihre Mitarbeiter automatisch in Altersvorsorgeprogramme einschreiben. Nach einem Jahr hatten die automatisch eingeschriebenen Mitarbeiter tatsächlich mehr gespart als ihre Vorgänger. Doch sie zogen auch mehr Geld wieder daraus ab. Die Mitarbeiter, die sich selbst anmelden mussten, verzichteten nicht auf die Vorsorge – sie brauchten nur länger, um sich einzuschreiben. Nach zwei Jahren war der Unterschied verschwunden: Beide Gruppen hatten gleich viel gespart. Der Nudge hatte nicht gewirkt.
Mit Organspenden funktioniert es nicht
Bald kam eine Studie mit Ergebnissen staatlicher Nudging-Units nach. Dort stellte sich heraus, dass die Ergebnisse in der Praxis längst nicht so überragend waren wie in den wissenschaftlichen Experimenten. Im Durchschnitt bewegte ein Nudge von 1000 betroffenen Bürgern nur 14.
Und wie ist es mit den Organspenden? Dort stellte sich bald heraus: Wenn ein Land seine Bürger automatisch zu Organspendern macht, dann gibt es im Land zwar mehr Organspender – aber noch lange nicht mehr gespendete Organe.
Oft wird Spanien als Vorbild für so eine Reform benannt. Aber die aktuelle Leiterin der spanischen Organspendezentrale, Beatriz Domínguez-Gil, und ihr Vorgänger haben sich in einem großen Appell dagegen ausgesprochen, aus ihrem Beispiel die falschen Schlüsse zu ziehen. Der F.A.S. schickte Domínguez-Gil im vergangenen Jahr den warnenden Satz: „Die Widerspruchslösung lenkt von den wirklich notwendigen Veränderungen ab, die erforderlich sind, damit Organspenden Verstorbener funktionieren.“
Mehr Organspenden bekommt ein Land dann, wenn es seine Krankenhäuser besser organisiert. Beim Organspender-Status ist kaum etwas zu holen. Es stellt sich heraus: Wer Organe spenden möchte, braucht dafür nicht immer ein Gesetz. In Deutschland stehen 85 Prozent der Bürger der Organspende positiv gegenüber. In großen internationalen Studien stimmen bis zu 88 Prozent der befragten Angehörigen einer Organspende zu. Und die Übrigen würden womöglich der Organspende explizit widersprechen.
Ein anderes Bild vom Menschen: Die Leute sind gar nicht so blöd
All das zeichnet ein ganz anderes Bild vom Menschen: In diesem Bild sind die Leute gar nicht so blöd. Sie haben manchmal viel zu tun und können sich nicht immer sofort um alles kümmern. Aber sie halten die Augen offen, können sich informieren – und wenn es wichtig ist, dann können sie ihrem Willen schon Gehör verschaffen. Nur ist dieser Wille nicht immer so, wie ihn andere erwarten. Manche Leute wollen ihre Organe eben nicht spenden. Manche wollen ihr Leben lieber jetzt genießen, als sich für ein Alter aufzusparen, von dem sie nie sicher wissen können, ob sie es überhaupt erleben.
Und welches Bild trifft nun die Realität? Vielleicht beide. Nudge-Verfechter Cass Sunstein warnt davor, die Durchschnitte zu ernst zu nehmen. Der F.A.S. sagt er: „Als ich ein Baby war, hatte meine Mutter Krebs. Einige Behandlungen funktionierten nicht, aber eine schon, und sie wurde 80 Jahre alt. Die Behandlungen hatten einen Durchschnittseffekt von null.“
Es kann schon sein: Meistens sind die Menschen gar nicht so blöd, aber manchmal hilft ein Nudge trotzdem.
Vorsicht vor Paternalismus
Der Bonner Ökonom Matthias Sutter hat gerade erst zusammen mit zwei Kollegen eine These dazu vorgelegt, warum so viele Ansätze scheitern. Er sagt, grob zusammengefasst: Manchmal haben die Menschen tatsächlich einen Willen, den sie nicht verwirklichen. Aber manchmal verwirklichen sie ihren Willen auch – aber sie wollen etwas anderes, als Politiker und Wissenschaftler dachten. Diese Unterscheidung ist wichtig.
Aber vielleicht nicht so einfach. Schon vor einigen Jahren hat Sutters Kollege Axel Ockenfels zusammen mit Sandro Ambuehl und Douglas Bernheim ein hübsches Experiment gemacht: Er gab Studenten die Chance, anderen Studenten beim Sparen zu helfen. Viele sorgten ziemlich robust dafür, dass die betroffenen Studenten tatsächlich das Geld sparten, statt es gleich auszugeben – ohne Rücksicht darauf, ob die Betroffenen das Geld vielleicht jetzt dringend brauchten. Nach näherer Untersuchung stellte er fest: Die Helfer waren gar nicht auf die Idee gekommen, dass andere Leute andere Prioritäten haben könnten.
Und auch das ist offensichtlich eine menschliche Schwäche: nicht bei den anderen, sondern bei uns selbst. „Falscher Konsens“ heißt die in der Psychologie: Wir denken, den anderen wären die gleichen Dinge wichtig wie uns. So ist es aber nicht immer. Wir müssen uns also merken: Andere Leute haben andere Prioritäten. Und wer probiert, sie von diesen Prioritäten abzubringen, sei es mit Nudges oder mit härteren Methoden, der könnte auf überraschend viel Widerstand treffen.
Ockenfels’ Team hat sein Experiment mit echten Abgeordneten wiederholt, die tatsächlich über Gesetze entscheiden. Und die benahmen sich nicht anders. Auch sie vergaßen, dass unterschiedliche Leute unterschiedliche Prioritäten haben.
Und wer jetzt über Nudging nachdenkt, sollte daran denken: Menschen sind nicht immer schwach, aber manchmal. Auch die Menschen, die über Nudges entscheiden.