Porträt – Qudus Onikeku: Er wollte leicht tanzen

Qudus Onikeku hätte ein einfacheres Leben wählen können. Mit 20 Jahren zog der nigerianische Choreograf nach Frankreich, gründete mit 25 seine eigene Tanzkompanie und erntete innerhalb weniger Jahre Preise und lobende Erwähnungen. Er tourte durch 20 Länder, trat beim einflussreichen Theater-, Tanz- und Gesangsfestival in Avignon auf und sicherte sich eine Dreijahresfinanzierung durch die französische Regierung. Er hatte es geschafft. Doch kurz vor seinem 30. Geburtstag entschied er sich anders. Er gab das Geld für zwei der drei Jahre zurück und zog in seine Heimatstadt Lagos.

Lagos ist vieles. Dass es dort leicht ist, gehört nicht dazu. Die Stadt erstickt im Verkehr, seien es Autos, verbeulte gelbe Kleinbusse oder Tuk-Tuks (die „Keke“ genannt werden). Der Geruch der Stadt ist der von Benzin. Gleichzeitig ist sie ein Ort, der vor Energie pulsiert: Die Mega-Metropole mit mehr als 20 Millionen Einwohner:innen wächst jeden Tag um 3.000 Menschen. Wenn die Voraussagen stimmen, wird Lagos am Ende des Jahrhunderts die Stadt mit der größten Bevölkerung weltweit sein. In diesem Sommer erreichten die Treibstoffpreise ein Rekordhoch, und die Inflation bei den Lebensmittelpreisen stieg auf 40 Prozent. Die Mehrheit der Einwohner lebt in Armut, und doch kann man um eine Ecke biegen und auf eine Millionärsvilla mit weißen Säulen stoßen oder auf ein Traumrestaurant jedes Instagrammers mit riesigen KI-Videobildschirmen und einer Vorspeise, die wie Aschenputtels Schuh auf einem Kissen serviert wird. Eine Stadt der Extreme ist Lagos in jedem Fall.

Als Onikeku jünger war, beobachtete er Korruption und Vetternwirtschaft und glaubte nicht, dass er in einem solchen Umfeld würde arbeiten können. „In Nigeria ist die wichtigste Frage: ‚Wie viel springt dabei für mich heraus?‘“, schreibt er in einem Essay auf seiner Webseite. Was brachte ihn dann dazu, zurückzukommen? „Bei all dem Geld, das wir in Frankreich bekamen, hatte ich wirklich das Gefühl, ich arbeite für die Regierung“, erklärt der heute 40-Jährige. „So als sei ich ein Regierungsangestellter. Das hat mir nicht gefallen.“ In Paris trat er mit seiner Tanzkompanie in Theatern auf, in denen nur ein paar wenige Schwarze im Publikum saßen. Das entsprach überhaupt nicht dem Bild auf den Straßen draußen. „Ich sagte zu mir: Ich will die reale Welt spiegeln – lebendig, chaotisch, problematisch.“

Er wollte künstlerische Freiheit und keine Verpflichtungen. In Frankreich sagten ihm einige Leute, seine Arbeit sei zu politisch, aber es ging ihm nicht darum, das Establishment zu bekämpfen. Er wollte nur „eine Welt erfinden, die nicht gegeben war“, erzählt er, „Räume betreten, in denen nichts ist und anfangen, etwas Neues aufzubauen“.

Da sind wir also und sitzen im „Medienraum” in einer Ecke seines Tanzstudios in einem Einkaufszentrum in Onikan im Stadtteil Lagos Island, wo zwischen Video-Edits Fifa gezockt wird. In der starken Hitze des Morgens wärmen sich Tänzer:innen auf, unterhalten sich, lachen. Auf dem Boden stapeln sich bunte Kostüme und am Fenster improvisieren Musiker:innen mit ihren Instrumenten. Man hat viel mehr das Gefühl von Do-it-Yourself (DIY) als in den meisten anderen Tanzstudios. Und so ist es auch: Kostüme werden selbst hergestellt, Filme konzipiert und gedreht, alles selbst gemacht, sich in vielen verschiedenen Bereichen engagiert. Die Künstler:innen sind auch Unternehmer:innen (Onikeku hat nebenher ein KI-Projekt). Sicherlich gebe es in Lagos Probleme, sagt der Choreograf. Vielleicht sei es aber auch gerade der Mangel an Herausforderungen in Frankreich gewesen, der ihn nach Nigeria zurückkehren ließ, „wo ich mit etwas Realem ringen kann, nicht nur mit einer Idee“.

Real ist in jedem Fall das hohe Energielevel in der überwiegend jugendlichen Bevölkerung. Als Onikeku nach Nigeria zurückkehrte, waren 65 Prozent der Bevölkerung jünger als 25 Jahre. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, aber es gibt auch eine starke Unternehmerkultur und großes Engagement in den sozialen Medien. Onikeku fand einige seiner Tänzer:innen über Instagram. „Sie haben diese lebendige, junge Energie und waren dabei, ein neues Tanz-Genre zu erfinden, Afrodance. Ich dachte mir: Wow, das ist ein Raum, in den ich einfach eintauchen möchte.“

Gemeinschaft und „Black Joy“

Heute leitet Onikeku die QDance Academy, die für die Schüler:innen kostenlos ist. Sie müssen nur bezahlen, wenn sie verspätet zum Unterricht kommen oder eine Stunde verpassen – ein effektives Mittel, um das Engagement zu fördern. Gerade ist Onikeku dabei, ein neues Tanzzentrum zu bauen, das QDance Hub, das ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt für die Kunst in der Stadt werden soll. Außerdem entwickelt er Bühnenstücke für die Tanzgruppe QDance Company, die international auf Tournee geht. Sein neues Stück Re:Incarnation (deutsch: Wieder:geburt) etwa holt die britische Agentur Dance Consortium ab Mitte September für eine Tournee nach Großbritannien.

Re:Incarnation verbindet die Energie, das Leben, die Geräusche und die Kraft athletischer Körper, die vom Boden in die Höhe springen, fest mit dem Rhythmus, mit Themen wie Community, Konnektivität und „Black Joy“ (Schwarzer Freude). Später dann geht das Stück in suchende Soli und Duette über, die einen mysteriösen Sinn für Verwandlung und ein düsteres Gefühl vermitteln. Die Bewegungen basieren auf Streetdance ebenso wie auf Yoruba-Traditionen, aber ihr Stil lässt sich nicht festnageln. Für Onikeku ist die Vorstellung verschiedener Tanz-„Stile“ eine „Fortführung des nationalistischen Denkens, des Denkens in Grenzen, des Denkens des 20. Jahrhunderts“, erklärt er. „Wie sich bekriegende Einheiten, die unsere Welt aus Furcht bauen, nicht aus Liebe, Erstaunen oder Neugier.“

Bei den Proben arbeitet Onikeku mit den Tänzer:innen daran, „etwas tief drinnen in ihnen zu öffnen“. Während dieses Prozesses könne es passieren, dass sie in Tränen ausbrechen oder in einen tranceartigen Zustand verfallen: „Es ähnelt fast der Wirkung von Ayahuasca oder Marihuana“, erklärt er, „aber sie wird durch den Tanz erreicht, der Körper macht es selbst.“

Sieht man ihnen zu, selbst hier im Studio, geht man definitiv mit den Tänzer:innen auf eine Reise. Onikeku spricht von Tanz als Therapie und Heilung. „Mein Tanz ist eine Art Gebet, ein Impuls, der Energie bringt – auch dem Publikum –, sich aufzumachen und die Art von Zukunft aufzubauen, die wir alle haben wollen.“

Unter anderem wünscht sich Onikeku für die Zukunft, dass eine kreative Karriere möglich ist. In seiner eigenen Jugend betrachtete niemand Tänzer als einen echten Job. Als Kind, das immer in Bewegung war, fand Onikeku Spaß an Akrobatik und kopierte Bewegungen von Michael-Jackson- und MC-Hammer-Videos. Er fühlte sich wie Billy Elliot – der Junge aus dem gleichnamigen Spielfilm, der seinen Wunsch zu tanzen zunächst gegen seine britische Arbeiterfamilie durchsetzen muss. Mit der gleichen brennenden Leidenschaft und der gleichen missbilligenden Familie, erinnert sich Onikeku. Seine war eine muslimische Familie aus der unteren Mittelschicht, „sehr bescheiden – Bildung war der Schlüssel zu allem“. Zudem war er das zwölfte von 13 Kindern, „was bedeutete, dass ich elf Leute vor mir hatte, die alle wussten, was das Beste für mich ist“. Es gelang ihm dennoch, einer Tanzgruppe beizutreten und das eine Weile lang zu verheimlichen. Als er begann, zu Wettbewerben zu fahren, musste die Wahrheit auf den Tisch. „Tänzer zu sein, war der erste Akt der Rebellion in meinem Leben“, lacht Onikeku heute darüber. Nicht, dass er keine anderen Optionen gehabt habe: Er wollte einfach nur tanzen.

Die QDance Company wird bei der Wiedereröffnung des Nigerianischen Nationaltheaters auftreten, auf der anderen Seite des Wassers im Stadtviertel Iganmu. Es ist ein ikonisches 1970er-Jahre-Gebäude aus Beton, Marmor und mit atemberaubenden Holzschnitzereien.

In der ganzen Stadt lässt sich beobachten, dass der Staat neuerdings in Kunst investiert, weil er, so Onikeku, die Möglichkeiten des Kulturtourismus erkannt hat.

Gegenüber von QDance’ aktuellem Studio befindet sich das John Randle Centre, ein mutig gestaltetes Museum für Yoruba-Kultur, das im Herbst eröffnen wird. Im Oktober soll dort das neuntägige Festival Afropolis Lagos stattfinden, dessen Gesamtkonzept in Onikekus Hand liegt: ein panafrikanisches Treffen von Kreativen aus den Bereichen Tanz, Musik, Poesie, Mode, Comedy, Kunst, Film und mehr. Eine Zusammenkunft von Menschen, von der ein Impuls ausgehen soll.

Frühere Afropolis-Festivals fanden vor allem in Europa statt. Jetzt hat Onikeku das Festival nach Hause geholt. Das spiegelt seine eigene Entwicklung: Es ist ein Schritt weg von der Präsentation afrikanischer Künstler:innen für ein Publikum außerhalb Afrikas und hin zum Zünden eines kreativen Generators auf dem Kontinent selbst. Ziel ist es dabei nicht mehr, „der Macht die Wahrheit zu sagen“, sondern „andere Räume der Macht zu eröffnen“. Onikeku – ein radikaler Erneuerer, der gleichzeitig Communitys aufbauen kann und ein Mann ist, der seinen eigenen Weg geht – ist genau der Richtige, um dieses Feuer zu schüren.

Lyndsey Winship ist Tanz-Kritikerin des Guardian