Porträt | Der letzte Pazifist: Wie Rolf Mützenich Deutschlands wichtigster Friedenspolitiker wurde
Ein Lkw fährt vorbei, auf seiner Ladefläche ist olivgrüne Werbung für die Bundeswehr angebracht. Anlässlich ihres 70. Jahrestages wirbt die Truppe mit „70 Gründen“, warum man sich ihr anschließen solle. Gerade rollt Grund 66 am Bundestagsbüro von Rolf Mützenich vorbei: „Weil es Freiheit nicht zum Nulltarif gibt“, lautet er.
Der Sozialdemokrat schlägt die Hände vors Gesicht und sackt noch ein Stück weiter in seinem Stuhl zusammen. „Ich werde mich nie an derartige öffentliche Zurschaustellungen des Militärischen gewöhnen“, sagt er. Das erinnere ihn „an Zeiten aus dem Kalten Krieg“.
Mützenich ist wohl der bekannteste aktive Friedenspolitiker in Deutschland. Doch wer ihn zuletzt besuchte, traf einen müden Mann. Einen, in dessen Stimme viel Hoffnungslosigkeit lag und der sich in der ihm eigenen Freundlichkeit auch noch dafür entschuldigte, so niedergeschlagen zu wirken. Wenn man sich anschaut, wie das Jahr 2025 für ihn verlief, versteht man seine Müdigkeit.
„Putinversteher“ und „Verzichtspolitiker“ wurde Rolf Mützenich genannt
Zweimal hat er sich in den letzten Jahren noch gegen die Militarisierung aufgebäumt. Einmal, im März 2024, diskutierte der Bundestag gerade über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern für die Ukraine. Mützenich, damals noch SPD-Fraktionsvorsitzender, ging nach vorne, lehnte sich mit den Unterarmen auf das Pult und fragte: „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“
Im vergangenen Juni unternahm er einen zweiten Anlauf. Da gehörte er zu den 120 Erstunterzeichnern des „Manifests für Frieden“. Darin wurde eine „schrittweise Rückkehr zur Entspannung der Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Russland“ gefordert.
„Putinversteher“ und „Verzichtspolitiker“ waren Beleidigungen, die er daraufhin abbekam. Dabei muss man Mützenich nur in seiner Heimat besuchen, um zu verstehen, worin sein Politikverständnis verwurzelt ist.
Der 66-Jährige schließt sein Fahrrad vor dem Bürgerzentrum in Köln-Ehrenfeld ab und zieht seine quietschgelbe Sicherheitsweste aus, deren Reflektoren sich in der Dezembersonne spiegeln. Kürzlich hat er hier, in seinem Wahlkreis, noch an der Podiumsdiskussion „Irrationale Hochrüstung und militärische Alarmrhetorik“ teilgenommen.
Es dauert nur wenige Minuten, bis ein Mitarbeiter des Bürgerzentrums ihn anspricht: Solche Auftritte brauche es öfter! Mützenich lächelt – dann antwortet er, sein Zug sei doch längst abgefahren. Sein Gegenüber sieht das anders.
1981 war Mützenich Mitgründer des „Arbeitskreises Frieden“ in der SPD-Bundetagsfraktion
Köln ist nicht nur Mützenichs Heimat, es ist auch die Stadt, in der seine politischen Ansichten geformt wurden. Seine Schwester kam hier 1942 zur Welt und wurde vor dem Bombenhagel ins Bergische Land evakuiert. „Natürlich waren die Grauen des Krieges bei uns in der Familie ein Thema“, sagt er, nachdem er im Innern des Bürgerzentrums Platz genommen hat.
1975 trat er in die SPD ein und engagierte sich im Ortsverein Köln-Poll. Zusammen mit einem DKP-Betriebsrat organisierte er eine Demonstration vor einer Metallverarbeitungsfabrik, weil diese auf die Produktion von Panzerteilen umschwenken wollte. In dieser Zeit lernte er auch einen Mann kennen, den er als seinen „politischen Lehrer“ bezeichnet: Konrad Gilges.
Der heute 84-Jährige wurde 1980 in den Bundestag gewählt und stellte Mützenich als Mitarbeiter an. In Sachen Friedenspolitik habe es „nie einen Dissens“ zwischen ihnen gegeben, erzählt Gilges am Telefon. 1981 gründeten sie zusammen den „Arbeitskreis Frieden“ in der SPD-Bundestagsfraktion.
Mützenich stimmte für das Wehrdienstgesetz – ist das nicht ein Widerspruch?
Mützenich schrieb Papiere und zugleich an seiner Doktorarbeit über „Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik“, mit der er 1991 promoviert wurde. Über dieses Thema zu schreiben, sei mutig gewesen, sagt der Kölner Gilges. Immerhin habe es damals in der Union Bestrebungen gegeben, „selbst nach Atomwaffen zu greifen“.
Wenn man kritisch sein wollte, müsste man sagen: Auch Mützenich hat seine Überzeugungen zuletzt nicht bis zum Äußersten verteidigt. So stimmte er im Juni 2022 im Bundestag für das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr und musste – in seiner Funktion als SPD-Fraktionsvorsitzender – auch die Union überzeugen, mitzustimmen: Der Ampel fehlte die erforderliche Zweidrittelmehrheit.
Und als am 5. Dezember 2025 das Wehrdienstgesetz beschlossen wurde, stimmte Mützenich ebenfalls mit Ja. Das neue Gesetz sieht vor, dass 18-Jährige ab dem nächsten Jahr verpflichtend gemustert werden. Ist sein Abstimmungsverhalten kein Widerspruch zu seinen friedenspolitischen Positionen? „Unbedingt“, antwortet Mützenich, ohne zu überlegen.
Er fragt sich bis heute, warum er nicht Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses wurde
Zwar habe das Wehrdienstgesetz „eine Tür geöffnet“ in Richtung Wehrpflicht, „das sehe ich auch“. Aber für ihn sei es keine Gewissensentscheidung gewesen, die ein Abweichen von der Fraktionsdisziplin gerechtfertigt hätte. „Da ist man oft in Situationen, die einen zerreißen.“ In der Zeit nach der Bundestagswahl erlebte Mützenich zwei weitere Zerreißproben.
Erst machte ihm Lars Klingbeil das Amt des Fraktionsvorsitzenden streitig. „Ich war mir darüber im Klaren, dass ich aufhören muss“, sagt Mützenich selbst über dieses Manöver. „Wenn der Parteivorsitzende mir sagt, dass er sich beide Ämter vorstellen kann, akzeptiere ich diese Autorität.“
Doch anders als gedacht wurde er im Gegenzug nicht Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Der Posten ging an Armin Laschet, obwohl dessen CDU bereits das Außenministerium besetzt und es Usus ist, dass Fachausschuss und Ministerium nicht von derselben Partei geführt werden. Mützenich fragt sich bis heute, warum er den Job nicht bekommen hat. „Meiner Ansicht nach ist es eine Schwäche, dass wir es nicht geschafft haben, eine sozialdemokratische Stimme in der Außenpolitik zu institutionalisieren.“
Dass er seinen Parteifreund, Verteidigungsminister Boris Pistorius, in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, spricht Bände. Die Stimmung zwischen ihm und dem Mann, der das Land „kriegstüchtig“ machen will, könnte kaum schlechter sein. „Das würde am Ende nur Putin helfen“, kritisierte Pistorius die Rede von Mützenich, in der er das „Einfrieren“ des Ukraine-Kriegs forderte.
Noch weiter ging Pistorius nach der Veröffentlichung des Friedensmanifestes, da warf er den Unterzeichnern vor, sie würden den Wunsch der Deutschen nach Frieden „missbrauchen“. Wie hat Mützenich es aufgenommen, dass er von einem Parteifreund so an den Pranger gestellt wurde? Er wartet kurz, schnaubt leicht verächtlich, dann antwortet er: „Verwundert.“
Andrij Melnyk: „Mützenich ist für immer und ewig der widerlichste deutsche Politiker“
Wenn man sich über einen längeren Zeitraum mit Mützenich beschäftigt, kommt einem dieser Satz des Schriftstellers Robert Musil aus Der Mann ohne Eigenschaften in den Sinn: „Man kann seiner eigenen Zeit nicht böse sein, ohne selbst Schaden zu nehmen.“ Mützenich sagt, er würde den Satz sofort unterschreiben. Auch er ist seiner Zeit in gewisser Weise böse, weil sie auf Hochrüstung und Konfrontation statt auf Diplomatie und Ausgleich setzt.
Und auch Mützenich hat Schaden genommen, sich „blaue Flecken“ geholt, wie er es selber sagt. Der damalige ukrainische Botschafter, Andrij Melnyk, nannte ihn nach der „Einfrieren“-Rede gar den „widerlichsten deutschen Politiker“, und zwar „für immer und ewig“. Von so vielen verschiedenen Menschen und auf derartige Weise attackiert zu werden, würden die wenigsten unbeschadet überstehen.
In der Friedensbewegung gibt es Menschen, die sich von der militaristischen Gegenwart so in die Ecke gedrängt fühlen, dass sie auf maximale Opposition umschalten. Manche werfen Pistorius & Co. sogar vor, gegen Artikel 26 des Grundgesetzes zu verstoßen: „Vorbereitung eines Angriffskrieges“. Mützenich schüttelt darüber den Kopf. Er würde nie so weit gehen, solche Dinge zu behaupten.
2024 wurde Mützenich noch dafür gescholten den Krieg in der Ukraine „einfrieren“ zu wollen
Sein Plan für eine zeitgemäße Entspannungspolitik sieht so aus: Er schlägt vor, dass die deutsche Bundesregierung dem Kreml anbieten soll, auf die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen zu verzichten, wenn Moskau im Gegenzug die landgestützten Atomraketen in Kaliningrad abzieht. „Wenn es dazu kommt, würde das die Eskalationstendenzen verringern“, glaubt Mützenich. Doch von solchen Ideen ist seine SPD mittlerweile weit entfernt. Obwohl sich Mützenich schon einmal als Visionär erwiesen hat.
Der Stern hat im November einen Podcast mit dem Titel „Die Rehabilitation des Rolf Mützenich“ veröffentlicht. Da wurde ein naheliegender Gedanke thematisiert: Während Mützenich im März 2024 noch dafür gescholten wurde, den Krieg „einfrieren“ zu wollen, wären sowohl die Europäer als auch die Ukrainer mittlerweile wohl froh, wenn es dazu käme – und Kiew nicht noch weitere Gebiete verlöre. Nach den Gesprächen, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kurz vor Weihnachten in Berlin führte, zeigte er sich für einen Waffenstillstand entlang der Frontlinie offen.
Obwohl das eins zu eins die Forderung ist, die Mützenich vor fast zwei Jahren im Bundestag vortrug, wurde er bisher weder von seinen Genossen noch der Öffentlichkeit rehabilitiert. Dafür ist das politische Geschäft wohl zu hart. „Er ist unfair behandelt worden“, meint Konrad Gilges am Telefon, „auch von seiner eigenen Partei.“ Oder kann sich jemand vorstellen, dass Pistorius öffentlich sagt: Rolf hatte recht? Eben.
Auf eine Errungenschaft ist Mützenich besonders stolz
Die SPD hat es nicht geschafft, Mützenich zum Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses zu machen, obwohl das ein würdiger Karriereausklang gewesen wäre. Nun ist er einfacher Abgeordneter für die Kölner Stadtbezirke Nippes, Chorweiler und Ehrenfeld. Das Wort „einfrieren“ vermeidet er tunlichst, weil es zu vergiftet sei. In Groll wird er dennoch nicht aus der Politik scheiden. Denn auf eine Errungenschaft ist er richtig stolz.
Ein Dienstagabend im Dezember. In einem Wirtshaus in Köln-Vogelsang haben sich rund zwei Dutzend Genossen versammelt, um ihrem Abgeordneten zuzuhören. In der Mitte steht ein Fass Kölsch, an dem sich großzügig bedient wird. Irgendwann kommt „der Rolf“, wie ihn hier alle nennen, auf eine „historische Sekunde“ zu sprechen, in der der damalige Finanzminister Christian Lindner (FDP) „geschlafen“ habe.
So habe man erreicht, dass ab dem 1. Januar 2023 das Kindergeld pauschal auf 250 Euro pro Kind angehoben wurde. Für Mützenich ist das nicht nur irgendeine sozialpolitische Entscheidung, in ihr spiegelt sich etwas, was er für den Sinn von Politik überhaupt hält: „Entscheidungen zu treffen, die Nachfolgeregierungen nicht mehr so leicht verändern können.“ Mützenich ist überzeugt: Nicht einmal die AfD würde sich trauen, das Kindergeld wieder zu senken.
Vergleichbare Erfolge hat er auf dem Gebiet der Friedenspolitik nicht zu verzeichnen. Gut möglich, dass Mützenich bald sein Mandat abgibt. Er selbst sagt: „Ich werde ein politischer Mensch bleiben, was auch ohne Mandat und Amt möglich ist.“ Deutschlands Politik aber wird ärmer sein.